Das Hungerlied

Von Georg Weerth

Verehrter Herr und König,
Kennst du die schlimme Geschicht?
Am Montag aßen wir wenig,
Und am Dienstag aßen wir nicht.

Und am Mittwoch mussten wir darben
Und am Donnerstag litten wir Not;
Und ach, am Freitag starben
Wir fast den Hungertod!

Drum lass am Samstag backen
Das Brot fein säuberlich –
Sonst werden wir sonntags packen
Und fressen, o König, dich!

Klage einer Buchperson über ihre Vergänglichkeit

Von Giwi Margwelaschwili

Vom Baum des Lesens fallen langsam alle meine Blätter. Nur ganz wenige haften noch an dem kahlen Geäst. Nackt und trostlos ragt das Sinngerüst in den winterlichen Buchwelthimmel.
O du mein armes Leben! Wie schnell vergingst du mir doch unter den Blicken des rastlosen Lesers! Nur ein letztes abschiednehmendes Anschauen darf ich noch von ihm erwarten und alles ist zu Ende.
Großer Buchweltgott, ich bitte dich: sage, wann schickst du wieder einen Frühling in mein Buch? Wann belaubt ein neuer Leser den Baum meines Lebens?

 

Aus “Das Leseleben” von Giwi Margwelaschwili

Kein Blatt vor dem Mund

Von Sarah Schmidt

Vor über 20 Jahren stand ich zum ersten Mal am Mikrofon einer Lesebühne. Es war aufregend und berauschend, und ich wollte unbedingt mehr davon. Mehr von dem Gefühl, eine neue Art von Kultur mitzuentwickeln, eine die sich unabhängig von der etablierten Literatur- und Bühnenszene machte, in der der Abstand zwischen Autoren und Publikum häufig verschwand. Eine Kultur, deren Mittelpunkt das eigene Erleben war.
Ende Februar stand ich vorläufig zum letzten Mal bei „meiner“ Bühne – dem Frühschoppen im Schlot – am Mikrofon, um mich zu verabschieden.
Ob ein Ausstieg aus der Szene, mit der mich so viel verbindet, die richtige Entscheidung ist? Ich weiß es nicht. Vielleicht werde ich es bald vermissen. Das würde mich freuen. Trotzdem ging es nicht anders. Ich habe ein gutes Jahr Nachdenken für diesen Entschluss gebraucht, da aber dieser Artikel kurz werden muss, beschränke ich mich auf drei Aspekte: die Kollegen, das Publikum und mich.
In der Berliner Szene habe ich wunderbare männliche und weibliche Autorinnen kennengelernt, glitzernde Perlen, auf die ich mich jedes Mal freute, wenn ich mit ihnen auftreten konnte. Aber das Gros der Lesebühnen-Männer sind ziemlich maulfaule Gesellen, die sich selbst Gesellschaft genug sind und deren kollegialen Kommunikationsmöglichkeiten mit einem aus den Zähnen gezogenen „Hallo“ schon erschöpft sind. Ich habe genug Zeit mit mittelalten Männern verbracht, die nicht sprechen wollen; ihr Verharren in einer Slacker-Pose macht mich müde. Alter ist das richtige Stichwort, um zum Publikum zu kommen.
Lesebühnenpublikum ist entweder sehr jung, und das bin ich nicht mehr. Oder ganz schön bei Jahren, und das bin ich noch nicht. Ich brauche also einerseits immer häufiger eine Lesebrille, aber ich möchte mir noch nicht die Schuhe ausziehen und meine Wollfüße auf die Bühne legen. Ja, das machen ältere Besucher sehr gern. Wahrscheinlich, um auszudrücken, wie wohl sie sich fühlen. Und das wiederum eint beide Generationen. Sie wünschen sich Unterhaltung, die nicht wehtut, Geschichten, in denen sie sich spiegeln können.
Texte, die nicht ganz genau in das erwartete Schema passen (Ich-Perspektive, voll witzige Wendungen und/oder Wortspiele, Alltag), werden freundlich müde beklatscht. Dann ist man froh, wenn der nächste Text wieder ein Schenkelklopfer ist, denn darum kommt man ja zur Lesebühne. Wenn die Welt düster scheint, möchte man es wenigstens in der Freizeit lustig haben. Verständlich. Aber vor Zuschauern, die beim Wort „ficken“ immer wieder entzückt auflachten, konnte ich mein Augenrollen nur noch mühsam verbergen.
Super Überleitung zu Punkt drei: ich. In diesen zwei Jahrzehnten Lesebühne habe ich das Schreiben von pointierten Kurzgeschichten gründlich gelernt, Routine bekommen. Routine lernen ist eine gute Sache, so lange, bis man sie hat. Seit einiger Zeit langweilte sie mich. Immer dringender wollte ich mehr als ein Spotlight verfassen, gründlicher beschreiben. Das geht in einer Lesebühnengeschichte so wenig, wie es in diesem Artikel möglich ist. Kurz und knackig soll es sein, und das bin ich nicht mehr so oft. Vielleicht auch, weil in meinem Leben nicht mehr so viel passiert, das sich in einer Kurzgeschichte erzählen ließe. Wäre ich eine Lesebühnen-Daily-Soap, ich wäre auserzählt.
Wären Slams – also Wettbewerbe – ein Ausweg? Auf keinen Fall. Als einen der großen Vorteile der Lesebühnen habe ich immer die Konkurrenzlosigkeit empfunden. Natürlich entwickeln sich Lieblinge, die eine schreibt einfach besser als der andere, ein paar Überflieger haben sich aus der Szene herauskristallisiert. Die Idee, freiwillig als Gegner vor ein Publikum zu treten, das durch Klatschen oder durch Grölen „Sieger“ bestimmt, finde ich aber vollkommen idiotisch.
Was geblieben ist: das Bedürfnis, mich mitzuteilen. Das Schöne am prekären Autorendasein ist die Möglichkeit, einfach etwas Neues beginnen zu können. Ich bleibe lieber mit etwas arm, das mir derzeit mehr Spaß macht: Romane schreiben. Mein dritter ist gerade fertig. Das ist meine Freiheit.

Zuerst erscheinen in der taz, am 18.3.2015

Verfasser unser

Von Giwi Margwelaschwili

In meinem Buch bin ich der Herr (Verfasser). Da beten die Leute alltäglich: „Verfasser unser, der du bist in unserem Buchweltbezirkshimmel…“
Denn äußerlich tun sie ja noch sehr fromm, die Brüder. Aber daß sie nicht mehr mit Leib und Seele bei meinem Thema sind, weiß ich längst.
Mein Buch liest sich nämlich nicht mehr so glatt wie ehedem.
Manchmal streiken die handelnden Personen dort oder sie demonstrieren mit Plakaten wie „Wir fordern eine bessere Verfassung!“ „Gebt uns eine bessere Geschichte!“ „Wir wollen mehr Hauptrollen!“ u.ä. vor dem ungeduldig staunenden Leser.
Hin und wieder explodiert auch mal etwas in einem Kapitel, eine Leitung, ein Warenhaus oder irgendeine Verwaltung.
Neuerdings finde ich auch Flugblätter zwischen den Blättern meines Buches. Die sagen: „Es gibt gar keinen Verfasser!“ „Buchpersonen, werft euer Thema ab und macht euch zu freien Realpersonen!“
Ein toller Unfug, was?

Aus “Verfasser unser. Ein Lesebuch” von Giwi Margwelaschwili (herausgegeben von Kristina Wengorz und Jörg Sundermeier)