Leserohrenglück

Von Giwi Margwelaschwili

 

In der Gedichtwelt singt eine Nachtigall. Begeistert hören dies alle Gedichtweltpersonen und horchen glücklich lächelnd in die Richtung der kleinen Sängerin.

Nur der Leser, der mit auf der schönen, grünen Gedichtweltwiese sitzt, ist missgelaunt. Er ist sogar sehr verbittert. Und dem Untröstlichen ist nicht zu helfen. Er kann ja den Gesang nicht direkt erleben. Er kann ihn nur lesen.

Das merkt die kleine Sängerin. Um jetzt auch dem Leser hörbar zu werden, strengt sie ihr Kehlchen ganz besonders an und singt und singt und singt und stirbt auf ihrem höchsten und schönsten Ton.

In der Gedichtwelt hat man nichts gemerkt, denn die Nachtigall sang ja im Versteck. Man glaubt dort, sie sei bloß verstummt, und bedauert die immer länger werdende Pause des Konzerts.

Der Leser aber ist ganz sprachlos vor Glück. Man bedenke: Er hat eine Gedichtweltnachtigall einfach so, ganz ohne Buchstaben, unmittelbar vernehmen können.

 

Eine Geschichte aus dem Band “Das Leseleben” von Giwi Margwelaschwili

Ausgehängt in Totenköpfen

Von Giwi Margwelaschwili

 

Gedichte sind Wortbilder oder Satzgemälde, die nur in Leserköpfen aus- und vorgestellt werden können. Früher betrug die normale Wahrnehmungszeit für Derartiges gewöhnlich ein paar Bewußtseinssekunden pro Bild. Heute ist das nun leider schon die Aus- und Vorstellungsdauer für ganze Wortbildergalerien.

»Wir können heute nichts mehr ausstellen und also auch nichts mehr vorstellen«, klagte neulich bekümmert ein guter, alter Wortbildmaler. »Unsere Bilder hängen wie in toten Köpfen.«

 

Eine Geschichte aus “Das Leseleben” von Giwi Margwelaschwili