Mühsams letzte öffentliche Rede

Von Erich Mühsam

[…] Und ich sage euch, dass wir, die wir hier versammelt sind, uns alle
nicht wiedersehen. Wir sind eine Kompanie auf verlorenem Posten.
Aber wenn wir hundertmal in den Gefängnissen verrecken werden, so
müssen wir heute noch die Wahrheit sagen, hinausrufen, dass wir protestieren.
Wir sind dem Untergang geweiht. […]

Im Februar 1933 gehalten vor der Berliner oppositionellen Gruppe des
Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller.
Dieser einzig erhaltene Teil der Rede stammt aus dem Band “Das seid ihr Hunde wert! Ein Lesebuch” von Erich Mühsam, herausgegeben von Manja Präkels und Markus Liske

«Cemetery of Splendour» von Apichatpong Weerasethakul

 

Von Philipp Stadelmaier

«Sometimes movies don’t really represent a concrete reality. They are more about our existence, our memories.» Apichatpong Weerasethakul

Lange Zeit über war das Kino eine Kunst des Träumens. Ihre Meister hiessen Minnelli und Fellini, Buñuel und Ruiz, Bergman und Lynch. Diese Kunst des Träumens bestand aus dem Geträumten: aus den Défilés der Traumbilder und -figuren, aus den Emanationen und Umschriften des Unbewussten in der Sphäre des Sichtbaren. Das Kino von Apichatpong

Weerasethakul ist ein anderes: nicht das des Geträumten, sondern der Träumenden. Ein Kino des Schlafs. Hier haben sich die Traumbilder in die Tiefe des Schlafs zurückgezogen, ist das Traumgeschehen auf seine äusserste Rinde reduziert: auf die Bilder von Schlafenden. Diese sehen wir, nicht aber das, was sie träumen. Das Kino ist hier nicht mehr die Bühne der

Träume – sondern ihr Grab.

Cemetery of Splendour ist ein solches Grab der Träume. Und dieses ist zunächst ein Grab von Königen, jahrtausendealt und tief verborgen unter der Erde auf dem Gebiet einer alten Schule im Norden Thailands. Soldaten waren hier angerückt, um Leitungen unter der Erde zu verlegen. Nun liegen sie, befallen von einer geheimnisvollen Krankheit, die sie tief schlafen lässt, im alten Klassenzimmer. Ab und an wachen sie auf, um bald darauf wieder das Bewusstsein zu verlieren. Jen, die den Angehörigen der Soldaten Krimskrams verkauft, beginnt, einen der Soldaten zu pflegen, und erfährt von zwei Göttinnen, an deren Schrein sie gebetet hat, den Grund für das Leiden: Die Könige, die hier begraben liegen, rauben den Soldaten ihre Energie, um sie für ihre Kriege zu benutzen, die sie bis heute fortführen: «Sie schlagen sich auch jetzt noch, in diesem Moment.» Die Soldaten träumen, aber wir sehen ihre Träume nie, weil sie im Grab der Könige verschwinden – geträumt wird immer anderswo.

Die Schlafenden halten im Traum aber Kontakt zu dieser örtlichen und zeitlichen Ferne der einstigen Könige, ihrer Kriege, Paläste und Friedhöfe. Und eine Frau mit medialen Fähigkeiten hält wiederum Kontakt zu den Schlafenden, deren Erlebnisse sie den anderen

berichtet, ohne dass sie dem Zuschauer je erscheinen würden. Im zweiten Teil des Films übernimmt sie dann den Geist des Soldaten, um Jen in einem Wäldchen hinter der Schule durch die unsichtbaren Ruinen des alten Palastes zu führen. Da man den Traum und das

Ferne nie sieht, rückt das Ferne ins Nahe, entsteht also ein Kontinuum aus Nahem und Fernem, Anwesendem und Abwesendem, Lebenden und Geistern, Gegenwart und Vergangenheit, Menschen und Göttern, Körper und Geist.

Wie in Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives (2010), wo ein Sterbender in Kontakt mit den Geistern seines Lebens und seiner brutalen Vergangenheit beim Militär trat, ist dieses Kontinuum vor allem eines der Macht zwischen den Königen von einst und dem Militär, das heute in Thailand herrscht. Auch ist es jenes einer Gemeinschaft, die von dieser Macht gezeichnet ist, denn Weerasethakuls Figuren sind immer Leidende: Jen hat ein geschwollenes Bein, ein anderer hat Würmer, die Soldaten die Schlafkrankheit. Der Schlaf erscheint als die einzige Freiheit in einem Land, wo das Militär alles kontrolliert, während das Medium und die Verbindung des Entfernten dieser Macht eine neue, subkutane Gemeinschaft entgegenstellt. Die Leitungen, die unter der Erde des Krankenhauses verlegt werden, sind ebenso ein Geheimprojekt des Militärs wie neue Möglichkeiten der Kommunikation. Am Ende sagen sich Jen und der Soldat, sie hätten gegenseitig ihre Träume gesehen.

Nun bleibt aber die Macht ebenso wie der «Widerstand» gegen sie ohne Bild, sind sie doch selbst nur anderswo geträumte, bilderlose Träume. Die Kommunikationskabel bleiben unsichtbar; man sieht von Anfang bis Ende nur einen Bagger beim Umgraben der Erde. Was die Menschen untereinander verbindet, ist ebenso verborgen wie das Vorhaben des Militärs.

Dieses ist «so geheim, dass es vor aller Augen statthat», wie es am Ende heisst. Der Bagger schaufelt nur weiter an diesem Grab für die Träume, in das hinein diese entfliehen und verschwinden. Das Traumbild, das stets weit entfernt ist, erscheint auch nicht durch Montage zweier weit voneinander entfernter Bilder, wie bei Jean-Luc Godard. Es entsteht einzig und allein aus Entspannung. So scheint der Film wie auf einer Bilderrolle aufgezeichnet, die alles zusammenhält und sich gleichsam entrollt, entspannt, so wie der Film in zwei Teile (oder gar Filme) zerfällt: Wie in Tropical Malady oder Uncle Boonmee folgt einer Konzentration auf

Innenräume ein Ausflug ins Draussen. Nach den Szenen im Krankenhaus führt das Medium Jen durch den unsichtbaren Palast im Wald hinter der Schule. «Siehst du? Roter Marmor», sagt sie ihr, während die Kamera mürbes Laub auf dem Waldboden zeigt. Das Traumbild entsteht allein im Erschlaffen der Gegenwart, so wie das Laub in seinem Mürbsein schlaff wird und aufhört, nur Bild von diesem Laub zu sein. Und allein diese Entspannung beinhaltet die Politik, aus der heraus oder zu der hin der Film aufwachen lässt: zu einer Politik des Laubes.

Der Ort dieses «entspannten» Traumbilds ist das Kino selbst. Hierhin gehen Jen und der Soldat in der Mitte des Films, wenn dieser also in zwei Teile zerfällt – womit das Kino selbst diese «Bilderrolle» ebenso zusammenhält wie entrollt. Von einer nur zur unteren Hälfte sichtbaren Leinwand verschwinden bald die Bilder eines Trailers und machen einer weissen Leinwand Platz. Es folgt ein Schnitt in den Schlafsaal, der von einer Phalanx von Schlaflampen in wechselndes Farblicht getaucht wird, wonach der wieder eingeschlafene Soldat aus dem Saal getragen wird und die Rolltreppen des Multiplexkinos sich mit dem Schlafsaal überlagern. Der Farbwechsel der Lampen, die surrenden Deckenventilatoren und die Rolltreppen bilden diese minimale, entspannte Bewegung, in der sich im Ruhenden das verborgene Traumgeschehen abzeichnet. Das Kino ist kein Ort der sichtbaren Traumbilder mehr – sondern ein Ort des Schlafs. Ebenso bilden die Röhrenlampen die Kehrseite eines Spektakels des Sichtbaren. Sie strahlen weniger Licht aus, als dass sie es beinhalten. Sie stülpen es auf seine nächtliche Seite um, machen das Licht zum Ding. Sie zeichnen die Träume der Schlafenden in den Raum: ihre äussere, nächtliche, schläfrige Seite.

Weerasethakuls Film erhellt damit eine Zeit, in der die Träume im Kino immer mehr zu Oberflächen und Dingen werden (wie all die Apparate, die die Bilder heute jenseits der dunklen Säle verstreuen). Zuletzt war in The Neon Demon von Nicolas Wending Refn die Schönheit «ein Ding», und in Spielbergs The BFG sind Träume umherschwirrende Farbkugeln. Weerasethakuls Kino ist in dieser Hinsicht das kostbarste. Er schickt den Zuschauer ins Kino wie in die Schule, die der Krankensaal ja früher war. Hier lernt man aber nicht das Aufwachen aus dem Traum, um die schlechten Illusionen zu überkommen, sondern hier lernt man zu schlafen, und (wie es ein Meditationslehrer hier einmal formuliert) im Schlaf zu wachen. Um den schlafenden Dingen wie im Schlaf ihr verborgenes Traumleben abzulesen. Wir müssen lernen, Filme wie im Schlaf zu sehen. Um wach zu sein, wenn mürbes Laub von rosa Marmor träumt.

 

Der Text erschien zuerst im Filmbulletin, Ausgabe 5,  am 16. Juli 2016.

Deutsche im Ausland

Von Erich Mühsam

 

Mutter Germania gebar in legitimer Ehe mit dem Geiste der Zeit drei Söhne: den Konfektionsreisenden, den Oberlehrer und den Radfahrer. Da alle drei sich brav entwickelten, da sie ihre Kräfte üppig herausbildeten und sich ihres Wertes wohl bewusst waren, schickte Mama sie auf Reisen, wofür sich die Söhne im Lobe der guten Dame schier überbieten wollten. Leider hatte sich jedoch Mutter Germania auch einmal mit dem Geiste der Ewigkeit eingelassen, und diesem Bunde – Gott, man spricht ja nicht gerne davon – entspross der deutsche Künstler. Um nicht an ihre Schande gemahnt zu werden, hatte Frau Deutschland diesen illegitimen Sohn schon frühzeitig verstoßen – und das Unglück wollte, dass die Stiefbrüder im Auslande einander begegneten.

Hört zu, was der deutsche Künstler mir über die Begegnungen und die Anfechtungen, die sie für ihn im Gefolge hatten, erzählte:

Ich habe so viel vom Vater, begann er, und meine Mutter hat mich von jeher so schlecht behandelt, dass es Sie nicht wundernehmen wird, dass ich ein wenig kosmopolitisch gesinnt bin. Zwar liebe ich sehr die Sprache meiner Mutter, wenn sie auch von meinen Brüdern arg missbraucht wird und in ihrer Gewalt recht verblüht und kümmerlich aussieht – aber sie, die bei zarter Behandlung doch noch immer sehr verlockend, sehr reizvoll, sehr schmiegsam und hingebend ist, ist auch das einzige, was ich noch Liebenswertes aus meinem mütterlichen Erbteil zu ziehen weiß. Wohl steht meine Sehnsucht noch oft genug nach dem heimischen Erdboden: Immer wieder möchte ich als Dichter die Sprache waschen und putzen, um die Spuren der Vergewaltigungen zu verwischen, die meine Brüder an ihr verübt haben; immer wieder möchte ich als Maler das Heimatland von den Geschmacklosigkeiten säubern, mit denen sie es verunziert haben. Aber der Geruch ihrer Fußsohlen ist so abscheulich, das Gebrüll, mit dem sie im Lobe des Landes das Land entweihen, so viehisch, dass es mich nie lange daheim hält; dass es mich immer wieder hinaustreibt nach Italien oder Frankreich, nach Ländern, wo ich Menschen finde, die mit mir den Vater gemeinsam haben.

Kann ich dafür, dass ich diese Deutschen, für die ich keinen Funken brüderlicher Empfindung mehr verspüre, die mir zuwider sind, wie mir kein Zuluneger zuwider ist, und die mich in den Tod hassen, weil ich den guten Ruf ihrer Mutter kompromittiere – kann ich dafür, dass ich sie auch im Ausland sehen muss, dass sie mich auch hierher verfolgen, wo sie mich umso mehr ekeln, als sie hier mit ihrer schmierigen Patzigkeit im Bewusstsein ihres Wertes ganz besonders plump auftreten und zu Vergleichen mit den Leuten herausfordern, die der polygame Geist der Zeit mit anderen Nationalitäten gezeugt hat? Und doch kann das mütterliche Blut in mir noch nicht ganz abgestorben, nicht ganz erkaltet sein; sonst könnte ich mir das heiße Schamgefühl nicht erklären, das mich bei allen ihren Handlungen und Äußerungen schüttelt, und das doch wohl nur auf einer innerst empfundenen Solidarität mit diesen nach Wunsch gearteten Kindern meiner Mutter beruhen kann, um derentwillen sie mich verstoßen hat.

Siehe da, der Konfektionsreisende! Wie er seine Ware preiste. Wie meine geliebte, von ihm schmählich genotzüchtigte Sprache herhalten muss zum Preise seiner Wohlanständigkeit, die ihn ernährt. Er hausiert mit Lodenjoppen und Kunsturteilen. Und praktisch ist er – ich sage Ihnen! Stets trägt er sein Notizbuch in der Hand, in dem er jeden Pfennig bucht, den er ausgibt.

Nicht etwa, dass er wenig ausgäbe – oh, er sorgt aufs Üppigste für seine Verdauung. Er schmatzt seine Poularde mit so feistem Behagen herunter, dass jeder schon von ferne den deutschen Konfektionsreisenden in ihm erkennt. Aber er achtet wohl darauf, dass sein persönlichstes Recht an seinem Geld ihm nicht geschmälert werde. […]

Der Konfektionsreisende begegnete mir in vielerlei Gestalt – aber wenn ich ihn bat, mir zu helfen, dann verleugnete er niemals seine Eigenschaft, dann gab es in allen Fällen Abweisungen. Ich pumpte auch Franzosen, ganz fremde, an: niemals erfuhr ich von ihnen einen Refus. Ja, der Konfektionsreisende ist mein praktischer Stiefbruder. Er trägt seinen Reiseplan wohlgesichtet in der Tasche. Er weiß, was er laut Baedeker anzuschauen hat, und welcher Zug ihn in 6 Wochen daheim wieder abliefert. Er versäumt keine Kirche und kein Denkmal, das bei Baedeker einen Stern hat, am allerwenigsten aber die Abfahrt eines Eisenbahnzugs. Wenn er – meist in Gestalt eines jungvermählten Paares oder einer deutschen Ferienfamilie – eine Sehenswürdigkeit besucht, so lässt er sich von einem Führer leiten, hört aufmerksam zu, was der Mann sagt, bleibt vor jedem Gemälde eine halbe Minute stehen, geht im Tempo des Redeflusses des Cicerone von Kunstwerk zu Kunstwerk und verlässt nach Abladung des Trinkgeldes die Stätte der Kunst, ohne einen Blick zurückzuwerfen, froh, der Besuchspflicht entledigt zu sein. Aber sein Warenbestand hat sich vergrößert, er kann eine Partie Kenntnisse mehr feilhalten, und wenn er wieder bei Seinesgleichen ist, dann kann er mitreden: Ja, da bin ich auch gewesen! – und kann die tiefsinnigsten Urteile über die Kunstwerke, die er gesehen hat, mit großen Gebärden ins Schaufenster stellen.

Ich komme zum Stiefbruder Oberlehrer. Er erfreut sich im Auslande unter den Brüdern der weitesten Bekanntheit. Nur schade, dass man überall über ihn lacht. Seine Seele ist nämlich bucklig – darum ist er so komisch. Den Buckel, den seine Seele hat, nennt er Logik und Exaktheit. Der deutsche Oberlehrer ist gründlich und gebildet. Wissen Sie, ich will meiner Mutter Germania ja nicht zu nahe treten, aber manchmal hab ich sie im Verdacht, dass sie doch auch Beziehungen zum Geiste der Vorzeit unterhalten haben muss; sonst wüsste ich kaum, wie ich mir den deutschen Oberlehrer erklären soll. Ich halte ihn für den gefährlichsten der drei Brüder. Der Konfektionsreisende und der Radfahrer stinken nur; der Oberlehrer aber fleckt. Er steckt seine Nase inbrünstig in jeden vergessenen Stumpfsinn und wischt sie dann mit lautem Schnäuzen an unseren besten Kulturen ab. Er muss alles wissen, und wer alles wissen muss, der weiß alles besser. Wenn Sie im Auslande bewundernd vor einem herrlichen Tempel stehen und das Unglück will es, so kommt der deutsche Oberlehrer und setzt Ihnen in dreistündigem Vortrag auseinander, warum der linke Quaderstein am dritten Portal rechts im falschen Winkel behauen ist, und wieso es kommt, dass dieser Tempel gerade hier und nicht sieben Meter weiter östlich erbaut ist. Der Oberlehrer verleidet einem jeden Kunst-, jeden Naturgenuss, weil er alles glaubt, erklären zu müssen. Und er glaubt, alles erklären zu müssen, weil er verzweifelt, wenn er niemand erziehen kann. Er erzieht zu Kenntnissen, zu korrektem Betragen, zur Benutzung der Sinnesorgane, zur Tugend – oder auch zur Freiheitlichkeit, je nachdem, was er gerade für eine Spezies protegiert. Wie er seine Frau zur Korrektheit erzog, habe ich auch einmal in Florenz an einem der heißesten Tage, die mir in Erinnerung sind, belauscht. Die Dame bestellte in einem Café eine Eisschokolade. Ihr Gatte aber, der ein deutscher Universitätsprofessor, etwa aus Halle an der Saale, gewesen sein muss, belehrte sie: »Das wirst du nicht trinken! Du siehst doch, kein Mensch trinkt Eisschokolade. Das kann man wohl in Rom oder Neapel tun, aber in Florenz doch nicht mehr!« Als ich darauf vernehmlichen Tones Eisschokolade verlangte, warf er mir einen vernichtenden Blick zu. Er ist – diese Eigenschaft teilt er mit den beiden anderen Stiefbrüdern – stets mit sich zufrieden. Für alles Weltgeschehen hat er hinreichende Erklärungen, sodass ihm die Mirakel der Kunst und der Natur nichts anhaben können. Nur über sich selbst ist er ganz unorientiert. Er hat keine Ahnung, wie ekelhaft er ist, wenn er jedes Kunstwerk auf die Farbensubstanz studiert, mit der es gemalt ist, ohne irgendwelchen seelischen Nutzen daraus zu ziehen; er sieht nicht, welchen schönheitzerreißenden Eindruck seine Klumpfüße in die herrlichsten Gegenden treten; ihm kommt kein Gefühl dafür auf, wie grotesk sich seine Erscheinung im Vergleich zu den prächtigen Südeuropäern ausnimmt, die es verstehen, mit Genuss zu atmen. Dem Konfektionsreisenden kann man hier und da doch mal aus dem Wege gehen, – der Oberlehrer tritt einem überall auf die Zehen. Daher ist er der gefährlichste Sohn des Zeitgeistes.

Der Radfahrer ist der widerwärtigste. Er schwingt die schwarz-weiß-roten Dessous der Mutter Germania mit jubelnder Grazienverlassenheit durch die Lande. Er heult sein »Deutschland, Deutschland über alles« durch jeden stillen poetischen Bergwald, von jedem Kirchturm und von jeder Felsspitze. Das Öldruckbild seines Landesvaters tröstet ihn über alle Qualen der Langweile, die er beim pflichtgemäßen Besuch der Kunstgalerien erdulden musste. Er fragt nicht: Ist die Tour schön? Sondern: Ist da eine gute Fahrstraße? Findet er die Tour trotzdem schön, so rechnet er das sich als Verdienst an: »Ha!«, ruft er aus. »Das nenn ich noch ’ne Gegend!« und lacht dazu aus vollem und belegtem Halse. […]

Können Sie sich nun vorstellen, was ich, der Künstler, durch meine Stiefbrüder für Qualen erdulden muss? Im Auslande fortwährend unfreiwillig an den Spruch erinnert zu werden: Gedenke, dass du ein Deutscher bist! – das ist das tückischste aller Verhängnisse. Tapsig, flegelhaft, verbohrt, hinterhältig, geizig, unverschämt, kulturlos – das sind so die hervorstechendsten Eigenschaften derer, die man als seine Brüder betrachten soll. Das einzige nationale Gefühl, das ich mir im Auslande gewahrt habe, ist das nationale Schamgefühl. – – – So urteilte der illegitime Sohn der Mutter Germania über die Deutschen im Ausland.

 

Aus dem Band “Das seid ihr Hunde wert! Ein Lesebuch” von Erich Mühsam, herausgegeben von Manja Präkels und Markus Liske

Virtuelles Theater

Hollywoodstars schweben alleine durchs Weltall, und die alten Kinogeister haben sich in digitale Pokémon verwandelt. Wie Filme auf die Einsamkeit des Menschen vor dem Display reagieren.

Von Philipp Stadelmaier

Auf den ersten Blick sind es ganz typische Paris-Fotos. Schnappschüsse in Schwarz-weiß von öffentlichen Plätzen der Stadt, vor allem von Parks wie dem Jardin du Luxembourg oder dem Buttes-Chaumont. Leute stehen herum, sitzen, laufen, mal alleine, mal in Gruppen. Aber was zunächst gewöhnlich erscheint, ist auf den zweiten Blick eher unheimlich: Jeder starrt wie gebannt auf sein Smartphone, als würde er irgendetwas suchen. Als würden die Handys die Menschen durch ein geheimes Territorium lotsen, das mit der sichtbaren Welt nichts mehr zu tun hat, als würde ein unsichtbares Kraftfeld ihre Bewegungen choreografieren.

Die Fotos entstanden diesen Sommer. Da war der deutsche Fotograf Thomas Dworzak, der in Paris lebt, gerade von einer längeren Reise zurückgekehrt. Er war von dem seltsamen Verhalten in seiner Umgebung so verblüfft, dass er sofort zu fotografieren begann. Das von Dworzak dokumentierte Phänomen, das nicht nur in Paris zu beobachten war und sich wie ein digitales Virus in der ganzen Welt ausgebreitet hat, ist das Smartphone-Spiel Pokémon Go. Darin werden digitale Monsterfiguren per GPS-Navigation überall auf der Welt an bestimmte Orte projiziert. Findet man eines, so taucht es wie ein Phantom im Bild der Handykamera auf: ein digital animiertes Monster, welches das Bild der wirklichen Welt überlagert und vom Spieler „gefangen“ werden kann. An besonders populären Orten gibt es besonders außergewöhnliche Monster zu finden, sodass eine Stadt wie Paris nicht nur viele Sehenswürdigkeiten, sondern auch exquisite Pokémon zu bieten hat.

Das Faszinierende an Dworzaks Fotografien ist nun, dass sie von einer großen Vereinsamung und Vereinzelung zeugen. Da geht die eine Gruppe einen Weg entlang, während eine andere herumsitzt, ohne dass sie miteinander irgendetwas zu tun zu haben scheinen, ebenso wenig wie die Mitglieder jeder einzelnen Gruppe untereinander. Auf anderen Aufnahmen sind nur wenige Personen zu sehen, vereinzelt, verstreut. Und dann sind da jene zwei Männer, die sich auf einem Parkweg direkt gegenüberstehen – und sich dennoch nicht einmal zu bemerken scheinen. Denn all diese Menschen schauen nur auf ihre Smartphones, auf der Suche nach Monstern, und hören auf, für die anderen zu existieren.

Dworzaks Bilder zeigen eine Welt, in der sich jedes Band zwischen den Menschen vaporisiert hat, in dem Moment, in dem sie alle in derselben digitalen Sphäre angekommen sind und denselben Pokémon nachjagen. Man könnte einwenden, dass durch Spiele wie Pokémon und alle möglichen sozialen Medien heute viel mehr kommuniziert wird als früher, was auch richtig ist. Aber Dvorzaks Fotos positionieren sich jenseits der digitalen Sphäre und betrachten diese von außen. Sie zeigen, anders als einige Screenshots des Spiels, die der Fotograf auch gemacht hat, nicht das Spiel selbst, sondern seinen Effekt auf die Körper der Spieler. Auf diese Weise dokumentiert er die Art, wie die Produktion, die Verteilung und der Konsum von Bildern unser Verhalten grundlegend verändert hat: Jeder scheint ganz in sich selbst versunken zu sein, gebeugt über den eigenen Bildschirm. Während Dworzak diese Vereinzelung in einer Welt der personalisierten Medien fotografisch dokumentiert, gab es in den vergangenen Jahren auch viele Filme, die das fürs Kino geleistet haben. Gerade eine globale Bildproduktionsmaschine wie Hollywood kann natürlich kaum anders, als früher oder später auf solche globalen Entwicklungen zu reagieren. So gab es zuletzt vermehrt Filme, die ihre Hauptfiguren vollkommen isolierten. Sandra Bullock sauste in „Gravity“ die meiste Zeit allein im All herum, und Tom Hanks war in „Captain Philips“ auf hoher See ebenso auf sich allein gestellt wie Robert Redford in „All is Lost“, einer einzigen One-Man-Show im Überleben. Auch in den Weltraumabenteuern „Interstellar“ und „Der Marsianer“ ging es äußerst einsam zu: Jessica Chastain, die in beiden Filmen mitspielt, ist nie zur gleichen Zeit am gleichen Ort wie die anderen Stars, Matthew McConaughey und Matt Damon, die jeweils in einem anderen Teil des Weltraums gestrandet waren. Die Stars teilen sich zwar einen Film, aber nie dasselbe Bild. Um unsere Gegenwart zu beschreiben, ist der Weltraum der rechte Ort: Jeder lebt in seiner eigenen Welt, ist um Welten vom anderen getrennt.

Die Parks, die Statuen und die alten Gemäuer, welche die Pokémon-Spieler bei Dworzak durchstreifen, erinnern aber nicht nur an aktuelle Blockbuster, sondern vor allem an einen viel älteren Film: „Letztes Jahr in Marienbad“(1961) von Alain Resnais. Ein rätselhafter Film in Schwarzweiß, in dem die Figuren durch das Labyrinth eines prunkvollen Palastes und eines Parks wandeln. Ohne dass sie wissen, wer sie sind, was sie miteinander verbindet, und ob sie sich von früher kennen oder nicht. In „Interstellar“ und „Der Marsianer“ wird die Distanz zwischen den Getrennten meist irgendwie überbrückt: durch die Liebe zwischen Vater und Tochter, durch das Vertrauen in Technik und Fortschritt. Wenn die Figuren aber bei Resnais vereinzelt wirken, dann verbinden sie einzig die Geister von früher, die ihre entrückten Bewegungen bestimmen und sie führen wie Spielfiguren in einem merkwürdigen Spiel.

Auch Dowrzaks Spieler wirken wie Spielfiguren, gesteuert von außen, ohne Verbindung untereinander, gelenkt von Geistern, den Pokémon, die in der Realität unsichtbar sind, präsent nur auf dem Handy. In Dworzaks Fotografien sind die Pokémon omnipräsent, obwohl sie unsichtbar bleiben. Neben diesen digitalen Geistern gibt es aber auch hier die Geister des Vergangenen, die schon den Film von Resnais heimgesucht haben.

Die Geister der wirklichen, der historischen Welt, die durch das nostalgische Schwarz-Weiß seiner Aufnahmen evoziert werden. Bei seinen Recherchen hat Dworzak festgestellt, dass viele der sogenannten Poké-Stops an historischen Orten liegen: an einem Holocaust Memorial, auf einem Soldatenfriedhof oder vor dem Pariser Club Bataclan, der durch die Anschläge vom 13. November 2015 traurige Berühmtheit erlangte.

Die Geister der wirklichen Toten scheinen also Konkurrenz bekommen zu haben von diesen anderen Geistern, den Pokémon, die sie überlagern, von ihnen ablenken, mit ihnen konkurrieren. Die Pokémon-Geister enthüllen zwar mancherorts die Geister der Opfer der Geschichte bis in die Gegenwart. Aber indem die bunten Fabelwesen vor ihnen aufpoppen und Faxen machen, verbannen sie diese auch zurück ins Dunkel. Während bei Resnais die Vergangenheit nicht mehr entschlüsselt werden konnte, wirkt bei Dworzak die äußere Welt und ihre Geschichte eher wie eine verlassene Ruine. Als sei sie nur noch Kulisse für ein virtuelles Theater, das die Pokémon-Spieler meist achtlos durchwandern, ohne noch auf ihre Geister zu achten.

Wenn Dworzak eine Welt zeigt, in der jeder seinen eigenen Geistern hinterherzujagen scheint, dann kann die Empathie nicht mehr nur allein den Geistern der wirklichen Toten gehören. Es gibt heute einfach zu viele fantastische, digitale Geister. Mal sind die Spieler fasziniert von ihrem Pokémon-Fund, mal von der schockhaften Erkenntnis wirklicher vergangener Gräuel, und wenn das Mitleid mit den Geistern der wirklichen Toten auch sicher nicht verschwunden ist, so hat es sich doch entscheidend relativiert. Dworzaks Bilder lassen von einem Remake von „Letztes Jahr in Marienbad“ träumen, in dem ein Kampf zwischen „wirklichen“ und digitalen Geistern um die Aufmerksamkeit der Lebenden stattfindet. Um deutlich zu machen, dass die „Augmented Reality“, die erweiterte digitale Realität, immer auch die Sphäre einer verringerten Realität ist, in der wir uns heute alle bewegen.

Der Text erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung am 13. Oktober 2016.

 

Zukunft in Ruinen – Der Kommunismus hat nicht gesiegt

Von Manja Präkels

In meiner Kindheit gab es eine vielbeschworene Zukunft – den Kommunismus – und einen klaren Feind – den Kapitalismus. Jeden Mittwoch heulten die Sirenen vom Spritzenhaus des Feuerwehrplatzes. Punkt ein Uhr schwoll der Ton an, hielt ein paar Sekunden und schwoll wieder ab. Wenn der Angriff käme, sollten alle Bescheid wissen, gefechtsbereit sein oder in Deckung gehen. Und da kaum einer im Besitz eines privaten Telefonanschlusses war, mahnte uns eben der wöchentliche Probealarm zu Wachsamkeit. Meine Schule lag in einem Neubaugebiet und war ebenfalls mit einer Sirene ausgestattet. Im Herbst 1983, wir lernten gerade »Frieden« in Schönschrift zu schreiben, brach das Geheule schon vormittags los, aber diesmal hielt es lange und dröhnte bedrohlich: Angriff! Versiert verteilte unsere Klassenlehrerin jene Masken, die wir an einem sonnigen Pioniernachmittag während unseres dritten Schuljahres angefertigt hatten. Antreten! Abmarsch!

Wir hatten die Feinstrumpfhosen unserer Mütter zerschnitten, eine begehrte Mangelware in der DDR. Umso ehrfurchtsvoller trugen wir ihre vielfach geflickten Schätze nun zur Gefahrenabwehr um Mund und Nase. Einige meiner Mitschüler erkannte ich gar nicht wieder, andere fürchteten sich und weinten. »Das ist doch gar kein echter Atombombenangriff«, tröstete unsere Klassenlehrerin. Wir marschierten in den Keller eines nahegelegenen Blocks der nach Marianne Grunthal benannten Hauptstraße. Die Antifaschistin war 1945 in Schwerin nur zwei Stunden vor Eintreffen amerikanischer Truppen von SS-Männern erhängt worden. Sie hatte vom Tod Hitlers erfahren und lauthals »Gottsei­dank, jetzt gibt es Frieden!« gerufen und war daraufhin von einem weniger friedliebenden Ohrenzeugen verraten worden. Doch daran dachten wir nicht, als wir eng an eng und immer stärker nach Luft ringend in dem kahlen Keller saßen. Eher an Hiroshima, den Atompilz und Menschen, denen die Haut von den Leibern fällt. Schon ein Jahr später, 1984, wurde ich in der Pionierrepublik »Wilhelm Pieck« aufgeklärt: Die USA hatten unter Ronald Reagan mit dem Aufbau eines Abwehrschirms gegen Interkontinentalraketen begonnen. In der BRD. Gleich drüben. Die Sprengköpfe zielten direkt auf uns. SDI, »Star Wars«, diese verbrecherischen Imperialisten wollten die endgültige Vernichtung aller fortschrittlichen Kräfte. Doch nur über unsere winzigen Leichen!

Das Bedrückende an diesem Szenario wich mit den Jahren einer gewissen Gewöhnung. Es löste sich bei mir in dem Maße auf, in dem ich darin unterrichtet wurde, Granaten weit zu werfen und mit dem Großkalibergewehr entfernte Ziele punktgenau zu treffen. Wenn ich diesen schicksalhaften Kampf der gesamten Menschheit schon mit meinem Leben bezahlen müsste, dann könnte ich mich wenigstens wehren und den einen oder anderen Feind mit ins Grab nehmen. Vorwärts und nicht vergessen! Kurz vor den Winterferien marschierten wir dann in den nahegelegenen Wald zum »Manöver Schneeflocke«, wo uns uniformierte Männer und Frauen bei stürmischen Winden geduldig beibrachten, mit Karte und Kompass umzugehen, Bäume zu bestimmen und Fährten zu verfolgen – eben alles, was es braucht, um im Partisanenkampf gegen einen übermächtigen Feind zu bestehen.

»Selbstschuss und ein Minenfeld, damit es uns hier gut gefällt/in unserem schönen Staat «, brüllten etwa zur gleichen Zeit die Fans der Punkband Namenlos lautstark in den Himmel über Ostberlin. Wegen »öffentlicher Herabwürdigung staatlicher Organe« landeten die Volljährigen unter den Bandmitgliedern im Gefängnis. Genosse Mielke, Chef der Staatssicherheit, hatte allen Diensteinheiten höchstpersönlich »Härte gegen den Punk« befohlen. Die kleine, aber wachsende Szene wurde unnachgiebig verfolgt, als »asozial« oder »faschistisch« diffamiert und bespitzelt.

Von alldem ahnte ich in meiner Pionierwelt nichts. Wenngleich die bleierne Glocke von Stagnation und Resignation spürbar auch über unserer Provinzstadt lag, die Parolen mit jeder Wiederholung an Gewicht verloren, das rote Fahnenmeer am Ersten Mai die enttäuschten Gesichter der Werktätigen nicht mehr zu überstrahlen vermochte.

Genau darauf zielte der opponierende Teil der Jugend ja: »Too much future«. Die Zukunft, die ihnen – bildhaft in Form von Zeittafeln, die unübersehbar in den Unterrichtsräumen hingen – gebetsmühlenartig versprochen worden war, hatte längst die Gegenwart verschluckt. Und es lag kein Trost mehr in ihr. Nur noch ewiges Vertrösten. Das Warten auf den Himmel hatte sich als tägliche Hölle aus Langeweile und Arbeit entpuppt. »Wer die Jugend hat, hat die Zukunft.« Das wussten schon die Nazis. Aber Otze, Pepsi, Grit und Ameise hatten keine Lust mehr, artig zu sein. Jana, Michael, Speiche und Fleck wollten keiner Partei als Kampfreserve dienen. Sie verweigerten den Gehorsam, fanden Zuflucht in Kirchenräumen und Dorfdiscos. Auf dem Weg dorthin passierten sie auch unsere Kleinstadt und ich staunte nicht schlecht über die Möglichkeit, drei miteinander verhakte Sicherheitsnadeln durch eine rosige Wange zu stechen. Ein Bild, das mich so wenig loslassen sollte, wie die Glocke der Lethargie dem Supergau von Tschernobyl am 26. April 1986 standzuhalten vermochte.
»Nach der TASS-Meldung über eine Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl wurden keine Werte der Radioaktivität gemessen, die eine Gesundheitsgefährdung hervorrufen können.« (Meldung des DDR-Rundfunks vom 30. April, also vier Tage nach dem Unfall).
Die tödliche Gefahr war konkret und wehte mit dem Wind von Osten her zu uns hinüber. Im Versuch, der Bevölkerung dies zu verschweigen, wurden letzte Reste an Glaubwürdigkeit mit den 800 000 Liquidatoren, der Stadt Prypjat und einem Viertel Weißrusslands verstrahlt. Für die meisten.

Ende der Achtziger hörte ich endlich Punk – Ostpunk, Westpunk, New Wave – und war elektrisiert. Die Sendung »Parocktikum« des Jugendsenders DT64 gab unangepassten, subversiven, seit mehr als einem Jahrzehnt ungehörten Klängen endlich eine Chance. Ein paar der Ost-Punker hatten sich inzwischen nach Westen abgesetzt, andere sich der wachsenden Naziszene angeschlossen. Sie setzten dem gefühlten »Too much future« die Zombierealität mit Hitler-Büsten und SS-Devotionalien geschmückter Jugendzimmer entgegen, während sich in Berlin noch einmal die Kampfreserven marschierender Pioniere und FDJler zum Fackelmarsch formierten. »40 Jahre Deutsche Demokratische Republik«, so lautete die letzte aller Losungen. Für mich war es die erste Nacht in Ostberlin, draußen, in einer Massenunterkunft im neu entstandenen Hellersdorf, während die Stadt in ihrem Inneren brannte.

Das System war zusammengebrochen. Binnen eines Jahres, die Aussichten waren für Momente so strahlend klar und gut wie nie erschienen, verkleinerte sich der Horizont wieder auf Arbeitsplätze, Kontostände, Wohnorte. Idiotenland. Als ich 1990, zehn Jahre nach Erscheinen der Platte, auf der Fahrt durch zerfallene ostdeutsche Landschaften Fehlfarbens »Ich schau mich um und seh nur Ruinen« hörte, entbehrte das jeder Ironie. »Was ich haben will, das krieg ich nicht. Und was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht.« Paul, das war der Versicherungsvertreter vor dem Rathaus in Fulda, wo er einen Stand aufgebaut hatte, um uns Zonis zu begrüßen, indem er uns in Grund und Boden duzte. Die blankgeputzten Straßen und pittoresken Innenstädte des Westens wirkten angsteinflößend. Dieser gelebte Tod war schön und vollendete sich im Bild der blonden Frühstücksfamilie, die für die Rama-Werbung in die Kamera strahlte. Hineinschießen. Kaputtmachen. So sahen die spontanen Impulse aus. Stattdessen kaufte ich im gutsortierten Plattenladen »Standing on a Beach« von The Cure. Und ging tanzen.

Die Zeit flog weiter. Die Reichen wurden reicher. Die Deutschen deutscher. Jedenfalls mancherorts. Doch alles kann sich ändern. Unwahrscheinliches geschieht. Auch, wenn es scheint, als sei die Zukunft nun der Totalität von ­Gegenwart zum Opfer gefallen. Kein Durchdringen. Der Feind mauert. Weltweit. Aktuell empfiehlt uns die Regierung in ihrem ersten Konzept zur zivilen Verteidigung seit 1989: »… einen individuellen Vorrat an Lebensmitteln von zehn Tagen vorzuhalten.« Abschied von morgen? Wohl kaum.

Keine Hoffnung zu haben, ist kein Grund zu verzweifeln. Die Bedrohungen aller Zeiten schweben über uns wie Drohnen über der Wüste. Die Widerständigen aller Zeiten stellen sich dagegen. Auf ihre Weise.

 

Der Text erschien erstmals in der Wochenzeitung Jungle World vom 25.08.2016.

Die achtziger Jahre versprachen uns Endlichkeit – Ich müsste tot sein

Ich weiß genau: Ich sollte tot sein. Das war mein Schicksal. Das wusste ich zehn Jahe lang, von 1980 bis 1990, es ist mir versprochen worden. Dennoch kann ich diesen Text schreiben. Und ich kann sagen, wer mir das Versprechen gegeben hat. Das war die Welt.

Die nämlich geriet spätestens am 22. Oktober 1983 aus den Fugen, nicht nur für Konservative. Die an diesem Tage stattfindende Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten mobilisierte Menschenmassen ungeahnten Ausmaßes, knapp eine halbe Million Menschen protestierten allein dort gegen Atomwaffen und Aufrüstung. Der ehemalige sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt rief auf der Tribüne: »Wir brauchen in Deutschland nicht mehr Mittel zur Massenvernichtung, wir brauchen weniger.« Und Tausende applaudierten.

Sein Satz war nicht der originellste Beitrag zum Thema, doch er hatte immense Wirkung. Schließlich hatte Brandts Nachfolger und Parteifreund, Helmut Schmidt, erst wenige Jahre ­zuvor gemeinsam mit dem britischen Premierminister James Callaghan den damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter dazu gedrängt, die sogenannte Nachrüstung von Mittelstreckenraketen in Westeuropa zu forcieren – um der vermeintlichen nuklearen Übermacht der Sowjetunion ein großes Waffenarsenal entgegensetzen zu können. Auch der nächste Kanzler, Helmut Kohl, stand zu diesen Plänen. Doch an diesem kühlen Herbsttag waren plötzlich in ganz Deutschland über eine Million Menschen auf der Straße, um gegen die Atomwaffen zu demonstrieren. Jahre später berichtete Wolfgang Schäuble, noch immer empört, welch großen Einfluss dieser Massenauflauf auf die Politik hatte. Weitere Nachrüstungs­pläne wurden erstmal auf Eis gelegt.

Dennoch wussten alle Menschen, dass die Sprengkraft der Atomwaffen, über die die damals fünf Atommächte bereits verfügten, allemal hinreichen würde, um die Oberfläche der Erde gleich mehrmals hintereinander zu zerstören. Und alle wussten, wie leicht es passieren kann: Filme wie »Terminator« (1984) oder »War Games« (1983) spielten mit der Idee, dass die Computer eines Tages selbst die Macht übernehmen – und die Menschheit mithilfe der Atomwaffen ausrotten. Atomkriegs­filme wie »The Day After« (1983) oder »Threads« (1984), und der kitschige Zeichentrickfilm »When the Wind Blows« (1986) waren große Publikumserfolge und ließen eine gesellschaftliche Diskussion darüber entstehen, was nach einem Atomkrieg sein werde.

Ich war damals gerade in der Pubertät. In meiner erzkonservativ geführten Schule wurde eine Ausstellung gezeigt, die mir vor Augen führte, was passierte, sollte eine sowjetische Atomrakete auf dem Flughafen in der Nachbarschaft einschlagen, auf dem die britische Rheinarmee ihre Jagdbomber stationiert hatte. Ich hätte, so wusste ich schon mit 15, Verbrennungen dritten Grades zu erleiden, der Lichtblitz würde mich, sollte ich nicht rechtzeitig irgendwo Deckung finden, blenden, wenn nicht verbrennen, der nachfolgende Fallout brächte mir die Strahlenkrankheit, und sollte ich selbst diesem sicheren Tod entgehen, so wäre es spätestens der nukleare Winter, der mich schließlich dahinsiechen ließe. Das wusste ich. Und ich wusste dank der vielen Nachrichtensendungen und den Berichten in den Zeitungen und Zeitschriften auch, dass eine sowjetische Attacke auf diesen verhältnismäßig unbedeutenden Militärflughafen nicht unwahrscheinlich war.

»Believe me when I say to you / I hope the Russians love their children too«, sang Sting, dieser Distinktionsdarsteller für Kulturlose, so voller Inbrunst, dass ich es auch hoffte. Doch was half es? Es musste nur ein verrückter US-Präsident mit dem roten Knopf spielen, ein russischer General die Kontrolle verlieren oder ein selbstständig denkender Computer die Macht übernehmen und schon wären wir alle – meine Eltern, der Bruder, die Nachbarn, meine Freunde, meine Geliebten (die nichts von meiner Liebe ahnten) – alle, alle wären futschikato. Verdunstet, verbrannt, vom Krebs zerfressen und schließlich im ewigen Winter verhungert.

Alle, gleich welche politischen Ansichten sie pflegten, beschäftigten sich daher mit dem Atomtod, alle dachten über Hiroshima nach. Und natürlich waren »der Russe« und »der Ami«, je nach politischer Vorliebe, eh schon bald »so weit«. Der Nachbar überlegte, sich einen Bunker in den Garten oder in den Keller zu bauen und sich Konservenbüchsen in Hülle und Fülle zuzulegen. Vielleicht wäre nach ein paar Monaten ja doch alles wieder irgendwie fein. Hoffnung stirbt auch hier zuletzt.

Wir Kinder aber wussten, dass wir tot sein würden, mit Mitte zwanzig oder Anfang dreißig, denn schließlich waren da nicht nur die oben beschriebenen Gefahren, nein, da waren ja auch noch die Gefahren durch das Material an sich: Raketen rosten, Sprengköpfe zerfallen, und es gab nicht mal genug Salzminen, in denen der atomare Abfall, den die zivile Nutzung mit sich brachte, gelagert werden konnte.
Wir waren also Leichen auf Urlaub. Man weiß im Alter von 13 oder 14 Jahren nicht ganz genau, was es heißt, sein Leben zu verlieren, doch weiß man schon, dass es keine Freude ist. Und wenn man die Mischung aus Gleichgültigkeit und Panik betrachtete, die die Erwachsenen umtrieb, wurde einem nicht wohler zumute. Dass ein »Gleichgewicht der Abschreckung« auf Dauer nicht halten würde, das war uns ebenfalls klar. Dennoch überdeckt der Alltag viele Fragen, man musste ja auch verliebt sein und Hausaufgaben machen, man lebte mit der Todesdrohung, lebte allerdings kaum danach. Doch dann bekamen wir es Ende April 1986 nochmal knüppeldicke.

In Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl nahe der ukrainischen Stadt Prypjat kam es zum sogenannten Super-GAU, der super war, da es ja bereits im Westen wie im Osten schon lauter größtanzunehmende Atomunfälle gegeben hatte. Nun aber explodierte der Reaktor des Lenin-Kraftwerks und setzte Unmengen von Schadstoffen frei. Zwar war die Medienpolitik der Sow­jetunion wie immer sehr uninformativ, doch bald hatten es alle verstanden – von Osten her näherte sich nicht etwa »der Russe«, von dem die alten Landseropas noch immer fabulierten, wenn sie genug Schnaps getrunken hatten, sondern eine Wolke voller radioaktiver Stoffe, die auf ganz Europa herabregneten.

Nun konnten wir das Wort Halbwertszeit konkret kennenlernen, lernten von Gemüsesorten, die nicht mehr genießbar waren, da sich Schadstoffe in ihnen ansammelten, und von Pilzen, die vielleicht nie wieder genießbar seien, da sie geradezu als Schadstoffmagnet funktionierten. Aber, das lernten wir auch, war es damit getan? War es nicht vielmehr so, dass die ­Katastrophe von Tschernobyl noch lange nachwirken würde, dass wir alle mit einem wesentlich gestiegenen Krebsrisiko zu kämpfen hätten und dass zudem die Sowjets vielleicht nun doch böse agierten, da sie einen nicht geringen Teil der eigenen Bevölkerung verseucht hatten und sich um ihren Abschreckungsausgleich sorgen mussten.

Schließlich hörten wir in all den Jahren noch vom sauren Regen, vom ­bösartigen Borkenkäfer, von Umweltschändern und Rheinverseuchern, von Verklappung und ungenießbarem Grundwasser, von krebserregenden ­Lebensmitteln und von der völligen Verwüstung Afrikas, der der Hungertod von Millionen folgen würde.

Das Interessante ist: Vieles von dem, vor dem da gewarnt und gemahnt wurde, ist tatsächlich eingetreten, vieles jedoch auch nicht. Doch selbst wenn Afrika weiter verwüstet wird, selbst wenn die Flüsse weiterhin verdreckt sind, selbst wenn die Ressource Wasser peu à peu verlorengeht – heute hat man andere Sorgen. Aus der Angst vor dem Tod, der 1983 eine Million Deutsche auf die Straße brachte, die eine grüne Partei erstarken und die Biomärkte expandieren ließ, ist eine Angst um das Ich geworden, das ja eigentlich gar nicht mehr hier sein dürfte. Dieses aber gilt es zu retten mitsamt seinem bisschen Geld, das viele nicht angespart haben, da sie eh dachten, bald ist alles passé. Daher expandieren die Fitnessstudios (und die Biomärkte), daher werden die Grünen gewählt (von Mittelschichtlern), daher tragen die Flüchtlinge an allem die Schuld, was jetzt nicht mehr alte Bundesrepublik ist.

Denn die Angst vor dem Tod ist die Angst um sich selbst, selbst wenn man um seine Familie fürchtet, fürchtet man vor allem das Alleinesein. Insofern half die Todesangst der achtziger Jahre sehr dabei, die Gesellschaft in eine Ansammlung von selbstsüchtigen Einzelkämpfern zu verwandeln, denen ihr eigener Arsch wichtiger ist als ihr Kopf. Und die Atomkraftwerke, die Atomraketen, die Umweltkatastrophen? Wer weiß, vielleicht lösen sie ihr Versprechen ja doch noch – verspätet – ein.

Der Text erschien erstmals in der Wochenzeitung Jungle World vom 25.08.2016.

Sein und Nichtsein

Von Markus Liske

Es gibt unzählige Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod. Mancher sieht sich die Harfe klampfend auf Wolken rumlungern, andere träumen davon, sich zünftig mit 72 Jungfrauen zu verlustieren, und wieder andere wollen lieber aus Kuhaugen blinzeln. Und dann ist da noch die dystopische Variante, nach der wir halbverfault aus den Gräbern steigen und, gierig auf Menschenfleisch, über die letzten noch lebenden Mitbürger herfallen. So weit mir bekannt ist, gab es jedoch nie einen Propheten, der geweissagt hätte, dass wir im Leben nach dem Tod Online-Banking machen, Selbstvermarktung über Facebook betreiben, mit Billigfliegern um die Welt jetten und versuchen, uns mit einer möglichst originellen Konsumgüterauswahl Individualität vorzugaukeln. Insofern muss ich wohl – so unwahrscheinlich mir das auch vor drei Jahrzehnten erschien – davon ausgehen, dass ich mich weiterhin im Leben vor dem Tod befinde. Fraglich bleibt, wie dieses Leben auf so falsche Bahnen geraten konnte.

Zwar war die Generation, der ich zuzurechnen bin, also jene, die ihre Teenagerzeit in den Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts verlebte, stets von ihrer finalen Auslöschung noch vor dem Jahr 2000 überzeugt, aber dennoch agierte sie meist so, als könne es noch eine Rettung geben. Die beängstigende Umweltstudie »Global 2000« hatten wir seinerzeit als Schulbuch anschaffen müssen (sie steht noch heute irgendwo hinten unten in meinem Bücherschrank), auf jedem Spind prangten Anti-Atomkraft-Aufkleber und zu den großen Friedensdemos gingen wir Arm in Arm mit unseren Lehrern. Im Deutschunterricht lasen wir »1984« von George Orwell und diskutierten darüber, wie gefährlich nah uns die BKA-Rasterfahndung gegen den RAF-Terrorismus schon an eine solche Überwachungsgesellschaft herangeführt hatte. Und um das nahende Weltende auch auf emotionaler Ebene fest in uns zu verankern, bekamen wir Aufsatzthemen wie dieses: »In 24 Stunden geht die Welt unter. Was tust du? Beschreibe in Präsens und Ich-Form.« Gedanken an Sex waren immer auch Gedanken an Aids, obwohl unsere Angst davor im Nachhinein unlogisch erscheint, erwarteten wir doch ohnehin tagtäglich den alles verzehrenden Atomblitz. Aber, wie gesagt, wir verhielten uns eben ganz so, als könnten wir mit persönlichem Gutsein das Ende noch abwenden. Diese fixe (und ziemlich protestantische) Idee bildete auch die Basis für unseren spezifischen Antiamerikanismus. Keineswegs machten wir uns Illusionen über das, was uns die Sowjetunion als Kommunismus oder die DDR als Sozialismus präsentierte. »Nach drüben« wollten wir sicher nicht, aber eine der beiden Seiten würde kapitulieren müssen, um die Katastrophe abzuwenden, und da wir uns nun einmal westlich der Mauer befanden, sahen wir uns verpflichtet, der Kapitulation des Westens das Wort zu reden. So verstanden wir Johnny Rottens »I’m looking over the wall and they’re looking at me!«

Was am No-Future-Punk der späten Siebziger lustiger, hedonistischer Aufbruch gewesen war, dem sich die Kids in ambivalenter Ironie hingaben, war für uns feierlicher Ernst.

Im Nachhinein sind bekanntlich viele klüger. Aber niemand hätte in den Achtzigern vorhergesagt, dass eines Tages ein grüner Außenminister zum ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr blasen oder dass einer der RAF-Anwälte als Innenminister Zeitungsredaktionen durchsuchen lassen und die Vorratsdatenspeicherung vorantreiben würde. Ja, es wäre einem, trotz aller Abscheu gegen die Sozialdemokratie, nicht mal eingefallen, dass ein SPD-Kanzler den Sozialstaat westdeutscher Prägung beerdigen könnte. Und schon gar wäre keiner auf den Gedanken gekommen, dass die nachfolgenden Generationen mittels Facebook, WhatsApp und Co. freiwillig einer fröhlich bunten Version des Orwell‘schen Überwachungsstaats den Weg bereiten würden oder dass ein Friedensnobelpreisträger 25 Jahre nach dem offiziellen Ende des »Gleichgewichts des Schreckens« die in Deutschland stationierten Atomwaffen modernisieren lassen könnte, ohne damit Massendemonstrationen auszulösen.

Es gibt eine Kluft zwischen dieser neuen Welt und jener, in der wir aufwuchsen, eine Zeit, in der im globalen Maße politische Weichen neu gestellt, Perspektiven verschoben und neue Entwicklungslinien initiiert wurden – das sind die neunziger Jahre, welche im kollektiven Gedächtnis zumeist wie eine diffuse Leerstelle erscheinen. Wir erinnern uns an sie, wenn mal wieder Flüchtlingsheime angezündet werden und die Kommentatoren raunen, das sei ja »wie damals in Rostock«. Oder wenn uns in Gesprächen über die »Balkan-Route« mal das Wort »Jugoslawien« entfleucht und Jüngere uns verständnislos anblicken. Wenn Soziologen versuchen, die Generationen Y oder Z zu definieren, und uns darüber wieder einfällt, dass es da mal eine Generation X gab, die wir sein sollten und die den Beinamen »Lost Generation« angeheftet bekam. Es war der Schriftsteller Douglas Coupland, der diesen Ausdruck populär machte – im Jahr 1991.

In den Neunzigern sind wir unseren Tod gestorben, wenngleich auf ganz andere Weise als erwartet. Wir starben ihn, als wir anlässlich der »Wir sind ein Volk!«-Parolen gegen die Schimäre eines »Vierten Reichs« demonstrierten, ohne die ganz reale, nämlich vor allem ökonomische Gefahr zu sehen, die dieses neue Deutschland für Europa bedeuten würde. Wir starben ihn, als uns irgendwann nach Mölln oder Solingen klar wurde, dass die neue Avantgarde an den Schulhöfen nicht mehr links, sondern rechts war. Wir starben ihn, als US-Präsident George Bush d. Ä. seinen von uns ursprünglich abgelehnten Golfkrieg, die aufständischen Kurden der Vernichtung durch Saddam Hussein überlassend, vorzeitig beendete und wir im Zuge dessen merkten, dass wir plötzlich keine Pazifisten mehr waren. Vor allem aber starben wir unseren Tod, als uns klar wurde, dass es dieses Generationen-Wir überhaupt nicht gab und nie gegeben hatte, dass es wie jeder andere Wir-Begriff nur eine Konstruktion war, die sich spätestens mit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion und Bushs »New World Order«-Rede 1991 als obsolet erwies.

Von einem Tag auf den anderen schüttelten nun selbst im engeren Freundeskreis die ersten ihre Angst vorm Atomtod – den einzigen wirklichen Kitt unserer Wir-Konstruktion – ab und generierten Karrierepläne aus Studiengängen, die sie einst nur gewählt hatten, um darin möglichst kommod die Zeit bis zum Weltende abzusitzen. Auf Partys, auf denen wir gestern noch gemeinsam »Das letzte Biest am Himmel« von den Neubauten mitgesungen hatten (»Im Osten auf/Der Osten ist rot/Im Westen unter«), war plötzlich sowohl weltpolitisch als auch persönlich »die Zukunft« zum Hauptthema geworden. Und bei denen, die da nicht mittun konnten, wurde viel über Depressionen gesprochen, jedenfalls bis nachts um zwei. Dann ging man tanzen – in einen dieser Technoclubs, die plötzlich überall aus dem Boden schossen.

Wenn ich heute Dokus über diese frühe Technozeit sehe, bin ich immer wieder verwundert, wie unterschiedlich Menschen dieselben Bilder wahrnehmen können. In meinem Umfeld hatte Techno seinerzeit absolut nichts mit Lebensfreude zu tun – nur mit überbordendem Nihilismus, den eine scheinbar neue Droge als zeitweilige Lebensgrundhaltung erträglich machte. In Wirklichkeit hatte es MDMA schon bei den Hippies gegeben, nur war seine Wirkung – das Ausschütten von Glückshormonen – diesen fröhlichen Weltveränderern im Vergleich zu LSD reichlich platt erschienen. Zu Recht. Man musste schon ordentlich düster gesinnt sein, um grundloses Glücklichsein als neue Wunderdroge zu begreifen.

In meinem persönlichen und vom Generationskonstrukt befreiten Rückblick jedenfalls erscheint die Technozeit der Neunziger als eine Art Fegefeuer für Zukunftslose. Das Leben nach dem Tod begann sich mir erst stufenweise zu enthüllen: Als die Love Parade dank erlebnishungriger Berlin-Touristen mit grüngefärbten Schnauzbärten 1997 erstmalig die Millionenmarke knackte. Als die Wirkung der Pillen immer schwächer wurde und immer schneller nachließ. Als die Generation meiner vor Weltgewissen triefenden Lehrer, zu Apologeten des freien Marktes mutiert, 1998 die Regierung übernahm. Als ich merkte, dass ich ebenso gut was Vernünftiges tun könnte in diesem unerwarteten Simulakrum einer Zukunft, das seither kontinuierlich aus dem Wechselspiel frei flottierender Fragmente verschiedenster Vergangenheiten eine scheinbar ewige Gegenwart konstruiert. Leben zum Beispiel.

Der Text erschien erstmals in der Wochenzeitung Jungle World vom 25.08.2016.

 

Anbruch der Wirklichkeit. Vor 40 Jahren erschien Maxie Wanders „Guten Morgen, du Schöne“

von Karsten Krampitz

 

„Da ist es endlich“, jubelte der Südwestfunk, „ein Buch von Frauen über Frauen, das Maßstäbe setzt.“ Die neue Form der Schwesterlichkeit, die da von drüben käme, lasse sich nicht in Westpaketen aufwiegen. Das ewige Manko jeder Kunst, ihre Künstlichkeit, in diesem Buch schien es vergessen zu sein. Nicht um Erbauung oder Erziehung ging es, sondern schlicht um Erfahrung – der Anbruch der Wirklichkeit in der Literatur.

Maxie Wanders „Guten Morgen, du Schöne“ war einmal das vielleicht berühmteste Werk der DDR-Literatur. In ihm erzählen neunzehn Frauen im Alter von 16 bis 92 Jahren von ihrem Hunger nach Leben, ihrer Sehnsucht und der Verständnislosigkeit der Männer. Noch im Erscheinungsjahr 1977 verkaufte es sich über 60.000 Mal. Eine Schallplatte folgte und etliche Theateradaptionen. 1980 war „Guten Morgen, du Schöne“ in der DDR der meistgespielte Text unter den Stücken ostdeutscher Dramatiker, noch vor Peter Hacks und Heiner Müller. Dabei hatte die Autorin eigentlich nichts weiter getan als zuzuhören und die Interviews zu Monologen zu verdichten. Doch die Selbstauskunft der Maxie Wander fehlte nur scheinbar, so Christa Wolf in ihrem Vorwort: „… aber sie ist ja anwesend, und keineswegs bloß passiv, aufnehmend, vermittelnd.“ Mehr noch als Sarah Kirsch, die 1973 mit der „Pantherfrau“ erstmals in der DDR die Methode der literarischen Bearbeitung von Tonbandprotokollen angewandt hatte, bereicherte Maxie Wander die Texte um das eigene Bild, das sie sich von den Frauen gemacht hatte. Dies erhebt sie über den Verdacht des profanen Journalismus: Aus Protokollen waren literarische Porträts geworden. Einem Seismograf gleich nahm Maxie Wander die Zeichen der Zeit auf. Die in Wien geborene Ehefrau des jüdischen Schriftstellers Fred Wander besaß die Gabe, einem ihr bis dahin fremden Menschen in größter Aufgeschlossenheit gegenüberzutreten.

Eigene Erfahrungen werden es ihr erleichtert haben, sich in die Krisen anderer hineinzuversetzen. Hatte sie doch bei einem Unfall ihre zehnjährige Tochter verloren; noch während der Arbeit an dem Buch war sie unheilbar an Krebs erkrankt, dem sie 44-jährig im November 1977 erlag. In „Guten Morgen, du Schöne“ sagt Ruth: „Ich möchte jemanden haben, zu dem ich beten kann: Lieber Ichweißnichtwas, lass mich noch ein wenig glücklich sein. Ich zahle dir jeden Preis.“ So ist jedes Kapitel auch ein Zwiegespräch der Autorin mit sich selbst. Da redet Rosi von einer Fernsehsendung, in der es um angeblich typisch weibliche Eigenschaften ging, Passivität, Narzissmus, Gehorsam, um dann trocken anzumerken: „Ich bin also ein Mann, dem nur das Stückchen Schwanz fehlt.“ An anderer Stelle polemisiert Rosi gegen „gewisse Frauenrechtlerinnen, die wie die Wilden schießen, weil man es ihnen erlaubt hat, die über ihre Männer schimpfen, weil sie ihnen den Abwasch nicht abnehmen oder die Scheißwindeln von den Kindern.“

Dass Maxie Wander ein ebenso undogmatisches wie hedonistisches Verständnis von der Emanzipation der Frau hatte, macht ihr Buch heute so wichtig. Jede der Frauen spricht zuerst für sich, verteidigt ihr Recht auf Individualität – in einer Deutlichkeit, die für DDR-Verhältnisse neu und so gut wie einmalig war. So erzählt die 23-jährige Barbara von ihrem Nachbarn, der aus dem Strafvollzug entlassen worden war: Manchmal sei der junge Mann zu ihr gekommen, weil er gemerkt habe, „ich bin auch allein“. Barbara, von Beruf Grafikerin, gab ihm Stift und Papier: „Hat vorher nie gezeichnet, fand das blöd und hat auf einmal Gefängnisfenster gezeichnet, richtig mit Perspektive und so.“ Eines Nachts stand er vor ihrer Tür und fragte, ob er bei ihr schlafen dürfe, sich einfach neben ihr Bett legen. „Ich war so blöd, ich hab nein gesagt. Und da hat er den Gashahn aufgedreht, in derselben Nacht. Wollte nicht mehr allein sein.“ So manche Leser werden sich im Jahr 1 nach Biermann staunend die Augen gerieben haben, als Barbara erzählte, ihr Nachbar habe in seinen Bildern wohl nicht nur die Gefängnisfenster gemeint, „für ihn war alles ein Gefängnis, sein ganzes Leben, aus dem er nicht herausgekommen ist. Ich hätte sehen müssen, was er da zeichnet.“

Der enorme Erfolg von „Guten Morgen, du Schöne“ lässt sich nur mit einem außerliterarischem Interesse erklären: mit der Funktion der DDR-Literatur als Ersatzöffentlichkeit. Zwischen dem Frauenbild der Zeitschrift „Für Dich“ – die berufstätige Mutter führt den Haushalt und engagiert sich zudem gesellschaftlich – und dem tatsächlichen Alltag lagen Welten. Nicht so bei Maxi Wander; bei ihr mussten die Frauen nicht funktionieren. „Guten Morgen, du Schöne“ liest sich als eine einzige, sehr poetische Gegendarstellung – der Einklang von Literatur und Leben. Wobei die Schriftstellerin den materiellen Sorgen und Wünschen der Frauen keinerlei Gehör schenkte. Niemand muss in ihrem Buch vor einem Laden anstehen, zehn Jahre auf einen Neuwagen warten oder Handwerker bestechen. Auch die sozialistische Arbeitswelt ließ Maxie Wander nahezu außen vor – ein Grund für ihren Erfolg im Westen.

Dabei hatte etliche Jahre zuvor noch ein Martin Walser beklagt, dass die Arbeiterschaft in der Literatur vorkäme wie Gänseblümchen und Ägypter. „Arbeiter kommen in ihr vor. Mehr nicht. Hier, in diesem Buch, kommen sie zu Wort.“ Walser meinte Erika Runges „Bottroper Protokolle“, für die er 1968 das Vorwort beisteuerte. Wollte die Kommunistin Erika Runge mit ihrer Dokumentation über die Schließung einer Zeche im Ruhrgebiet eine ganze Klasse von Menschen emanzipieren, emanzipierte die Kommunistin Wander das Individuum von der Klasse. Hier, Jetzt und Ich sind die Postulate in „Guten Morgen, du Schöne“ – erschienen in einer Zeit, als noch nicht alle Utopien tot waren und man schon ein besserer Mensch war, wenn man nur die besseren Bücher gelesen hatte.

Der Zeitgeist heute ist ein anderer, und auch die Protokoll-Literatur ist eine andere: In Kathrin Rögglas „wir schlafen nicht“ mutiert der Mensch zum animal laborum. Ihr Buch sammelt Berichte aus der Consulting-Branche, der neuen Arbeitswelt jenseits betrieblicher Mitbestimmung, Krankengeld und geregeltem Feierabend. Die „key account managerin“, der „it-supporter“ oder der „senior associate“ erscheinen als Prototypen des neuen Kapitalismus. Mit ihrer codierten Sprache, dem ständigen „workflow“, „multi tasking“ und all den „kick-off-meetings“ verraten sie ihre Sprachlosigkeit – in einer Welt, in der man ständig online ist, in der es keine Ruhe gibt und auch keine Träume. Bei Maxie Wander war das noch anders. „Was ist?“ fragt die 92-jährige Julia auf der letzten Seite. „Bist du schon müde? Dann machen wir Schluss, mein Kind.“

 

Der Aufsatz erschien erstmals vor zehn Jahren in der Berliner Zeitung und wurde nur in der Überschrift verändert.

Beim Ausmisten der Aufkleber

Von Philip Meinhold

 

Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren ziehe ich um. Und dazu gehört es, auszumisten. Meine Freundin behauptet, ich sei ein Messi – was übertrieben ist. Aber ich gebe zu: Es fällt mir schwer, mich von Dingen zu trennen, an denen mein Herz mal hing.

Da sind meine Kicker-Sonderhefte zu den Fußballweltmeisterschaften, meine Stapel mit Zeitungsartikeln und meine Sammlung von Musikkassetten. Was habe ich diese Europa-Kassetten geliebt! Von den Fußballer-Autogrammkarten der frühen achtziger Jahre habe ich meiner Freundin noch gar nichts erzählt.

Ich nehme mir meine Aufkleber-Sammlung vor, die ich als Kind in mühevoller Kleinarbeit angelegt habe. Es sind mehrere Hundert Sticker, die ich nicht wie üblich auf Möbel und Türen klebte, sondern ordentlich in einer Schublade hortete. Die letzten zwanzig Jahre haben sie in einem Karton im Keller überdauert; nun schütte ich sie auf dem Teppich aus, sie erscheinen mir wunderschön und geradezu lebenswichtig. Mit jedem Aufkleber, den ich in die Hand nehme, ist es, als würde ich eine Madeleine in einen Tee tunken.

Da sind die aus den Micky-Maus-Heften mit lustigen Sprüchen, da sind die Werbeaufkleber, die ich auf Funkausstellung und Grüner Woche ergatterte. Da sind die Autoaufkleber mit Fußball-Wappen, die es als Trostpreis auf dem Rummel gab; da sind jene, die ich mir in einem Klimbim-Laden namens Klinkert kaufte, in den ich als Grundschüler mein Taschengeld trug: ein Gerippe mit dem Slogan „Rauchen macht schlank“; ein Autoaufkleber mit der Aufschrift: „Überholen sie ruhig, ich kaufe ihren Schrott auf!“ Es kann kein Zufall sein, dass die Klinkerts pleitegingen, nachdem ich in die Pubertät kam.

„Was machst du da? Bist du verrückt geworden?“, fragt meine Freundin. Auf dem Teppich haben sich kleine Stapel gebildet. „Ich sortier sie nach Themen“, antworte ich.

Da sind die politischen Sticker: „Atomkraft todsicher“, „Sonne statt Reagan“, „Stell Dir vor, es ist Krieg – und nur Kohl geht hin“, die Weissagung der Cree darf nicht fehlen. Ein Aufkleber der SPD mit dem Konterfei Hans-Jochen Vogels: „Mit nem Vogel lebt sich’s besser“; einer der CDU: „Wir lassen uns nicht ‚verapeln‘ “.

Ein Stapel bildet so etwas wie eine Chronik des untergegangenen Westberlin: Werbeaufkleber des Berliner Luft- und Badeparadies „Blub“, das mittlerweile abgebrannt ist, der Mitfahrzentrale am Zoo sowie des Blue Moon, in dem wir später Docs und Bomberjacken kauften.

Ich nehme einen Sticker der Alternativen Liste in die Hand, den ich 1985 auf ihrer Wahlparty im Metropol kaufte: Ich war vierzehn, auf der Bühne sang George Kranz seinen Welthit „Din Daa Daa“, und die AL zog mit 10,6 Prozent ins Abgeordnetenhaus ein: „Gegen die Arroganz der Mächtigen!“

Ich packe die Aufkleber in den Karton zurück, zusammen mit dem Kicker-Sonderheft der WM 1982 und den Europa-Kassetten. „Und, was machst du damit?“, fragt meine Freundin. „Na, aufheben“, sage ich. Für einen Abend im Altersheim.

 

Zuerst erschienen in der taz am 28. 3. 2017

Prost Pazifismus

Von Frédéric Valin

Das Leben des Menschen ist kurz. Wer sich betrinken will, hat keine Zeit zu verlieren. (Arno Schmidt ) Trinker sind Pazifisten, sie können gar nicht anders. Sie haben es im Blut, und „es“ meint hier den Alkohol. Als Joseph Kessel in den 50ern Amerika besuchte, um eine Artikelserie über die Anonymen Alkoholiker in New York zu schreiben, traf er recht oft auf Abstinente, die mit dem Trinken aufhörten, weil sie ihre Musterung nicht bestanden hatten (und entsprechend nicht nach Europa fahren durften, um dort umzukommen).

Wer säuft, ist für den Krieg ungeeignet, Charles Bukowski wurde 1943 wegen Untauglichkeit wieder nach Hause geschickt, und Dylan Thomas, König der Säufer und Kriegsgegner bis ins Mark, kam derart rotzbesoffen zu seiner Musterung, dass man beschloss, ihn nicht in die Normandie zu schicken, um sich da von der Wehrmacht totschießen zu lassen. Wenn wir heute ihre viel zu frühen Tode beklagen (1) – , vergessen wir also gerne, dass der Alkohol ihnen sehr wahrscheinlich eher ein paar Jahre geschenkt hat. Das ist Ironie.

Wie der griechische Dichter Anakreon, seines Zeichens der erste von vielen literarischen Säufern, zu sagen pflegte: Es ist besser, betrunken auf dem Boden zu liegen als tot. Er starb 495 v. Chr., da war er 85 Jahre alt, als er sich an einer Traube verschluckte. Wäre er beim Wein geblieben, wäre er vielleicht heute noch am Leben.

(1) Insbesondere bei Dylan Thomas, der knapp 39-jährig in New York an seiner letzten Bestellung eingegangen sein soll. Es seien wohl an die 18 Whiskey gewesen, die er an jenem Tag trank, dann: Alkoholvergiftung, fünf Tage Koma, Exitus. Seine letzten Worte waren: „Ich glaube, das war Rekord.“

Auszug aus „Trinken gehen“ von Frédéric Valin, erschienen im Frohmann Verlag.