In Erinnerung an Ingo Ludwig

Von Manja Präkels

Der Junge saß meist allein. Für sich. Am Tresen, wo die Einheimischen hockten. Bier trinkende Bauern, die neugierig das Treiben auf der Tanzfläche bestaunten. Er saß nicht unter ihnen. Eher dabei. Auf Abstand. Armlänge. Es war eine wilde Zeit. Nicht annähernd so wild, wie wir fühlten. Oder?

Treffpunkt Bushaltestelle. Vorn, am Ortseingang. Mopedgeknatter und Küsse. Oder wenigstens die Sehnsucht danach. Nach einer Hand. Einem Blick. Er war ich. War einer von uns. Einer von den Scheuen, mag sein. Aber was zählt das Draufgängertum der einen ohne die Schüchternheit der anderen? Wir waren gern dort, wo alle so sein durften, wie sie wollten. Fast.

Im Laufe der Jahre ist mir sein Gesicht abhanden gekommen. Nur schemenhaft taucht es manchmal noch auf. Immer seltener. Auf dem Heimweg, beim Überqueren der regennassen Straße im Dämmerlicht. Im Zugfenster, wenn draußen vertraute Landschaft vorüberzieht. Zwischen den vielen, die warten. Dabei vergesse ich doch keine Gesichter. Was ist Wahrheit?

Ein ausgeblichenes T-Shirt. Ein Gesicht, das fehlt. Eine Stimme. Ein Mensch. Wenigstens ein Name.

Keiner erinnert sich. Keine. Nicht an diese Nacht. Nicht an ihn. Als wären wir gar nicht dort gewesen.

Sie schauen mich an, als sei ich verrückt.

Aber wenn ich es nicht bin, verrückt, dann sind es alle anderen. Oder?

Menschenscheu. Bummelletze. Bis zum Scheitel im Gestern. Sitzen geblieben. Dort. Bei dem Toten.

In meinen Träumen sehe ich den Jungen an einen Kachelofen gelehnt. Mitten im Saal. Wölkchen vorm Mund. Ich sitze an einem der Tische, die aufgereiht an der Fensterfront stehen. Am letzten, dem vor der Bühne. Er sieht mich nicht. Er hat keine Augen. Ich schreie und wache auf.

Der Beschluss, in das Archiv zu fahren. Polizeiberichte. In großen, unhandlichen Ordnern sind die Ausgaben der Tageszeitung abgeheftet. Jahrgangsweise. Ich muss nicht lange suchen. 1992. Trotzdem sitze ich viele Stunden da. Blättere. Erkenne den Großen, den mit dem kalten Lachen. Auf dem Foto der Fußballmannschaft. Erkenne die Kicker. Davor. Danach. Die, die immer weiter treten. Ich springe. 95. 91. 98. Die Furcht, dass es stimmt. Die Furcht, dass es nicht stimmt.

Es stimmt.

„Am vergangenen Sonntag kam es in Klein-Mutz in der Gaststätte ‚Wolfshöhle‘ zu einer Auseinandersetzung, die tödlich endete. Der 18-jährige Ingo L. aus Grüneberg trug Verletzungen im Gesicht, am Hals und am Körper davon. Der zu Hilfe gerufene Arzt stellte gegen 1.20 Uhr den Tod fest. Als Ingo L. am Boden lag, versetzte Oliver Z. ihm mehrere Fußtritte. Er trug sogenannte ‚Doggs‘, Schuhe mit Eisenspitzen.“

Der Text entstand für den Bildband „Die Angehörigen“ von Jasper Kettner & Ibrahim Arslan (136 Seiten, Hardcover, Fadenheftung, 37 Abbildungen.)

Die Welt von unten (Wie systemrelevant ist Literatur?)

Von Bettina Wilpert

Wie jeden Tag im Lockdown saß ich auf der Couch und wartete, dass M. von der Arbeit nach Hause kam. Wieder hatte ich den ganzen Tag mit niemandem gesprochen, M. arbeitete auf der Corona-Station. Während es so aussah, als tat ich nichts, arbeitete mein Körper daran, einen neuen Menschen zu produzieren. Anfang Januar 2021, sechs Wochen vor dem Geburtstermin, wurde M. als einer der ersten 10.000 in Sachsen geimpft und ich war froh, dass wenigstens einer von uns als systemrelevant galt. Neben dem Baby produzierte ich auch einen neuen Roman, den die Leute in Lockdown X lesen können würden.

In einem Erziehungsratgeber lese ich, man soll einmal versuchen, die Sicht des Babys einzunehmen und sich auf den Rücken auf den Boden legen. Also tue ich das und schau die Welt von unten an. Weder Schriftstellerin noch Mutter sein gilt in diesem System als relevant. Doch die Frage muss nicht lauten, wie systemrelevant ist Literatur, sondern: Welches System? Für das Rentensystem produzierte ich einen neuen Körper und ich tat, was der Staat von mir wollte: Ich als weiße gebildete Akademikerin sollte Babys produzieren. Der Staat nennt das Demographiepolitik und meint Bevölkerungskontrolle, in der die einen Kinder bekommen sollen und die anderen bloß nicht. Das System Kapitalismus braucht diese zukünftige Arbeitskraft, die ich ihm gab.

Das System Mensch braucht, wenn es die Welt erblickt, das Stillen der Grundbedürfnisse: Nahrung, Schlaf, Wärme, Pflege, Nähe und Anregung. Nähe und Anregung fehlen uns in der Pandemie, wenn wir Glück haben, haben wir wenigstens eine Person, mit der wir unter der Decke eine Serie schauen oder uns gegenseitig ein Buch vorlesen. Ein anderes Wort für Nähe und Anregung ist Kultur. Der Kapitalismus denkt, ohne sie könne er gut funktionieren, und das kann er auch eine gewisse Zeit lang, nur wir können es nicht.

Zuerst erschienen in der taz vom 18. 11. 2021 anlässlich von Bettina Wilperts Auftritt bei „Richtige Literatur im Falschen – Wie „systemrelevant“ ist Literatur? Zum Diskurs um Literatur und Pandemie“ mit Christoph Jürgensen, Peggy Mädler, Alexandra Manske und Enno Stahl im Literaturforum im Brecht-Haus.

Lesen gegen den Strom

Von Giwi Margwelaschwili

Wir sehen eine dunkle Schlucht, wo tief unten ein Gedichtweltgebirgsbach sich fauchend durch die Enge wälzt. Über einen schmalen Steg eilt gerade das lyrische Ich. Es will zu seiner Liebsten.

Aber da erscheint vor ihm, gerade in der Mitte der kleinen schwingenden Brücke, sein Leser. Der Steg ist so eng, daß es für sie unmöglich ist, aneinander vorbeizukommen.

„Aus dem Weg!“ befiehlt der Lyrische.

„Nie im Leben und Lesen“, sagt der Leser seelenruhig, aber auch laut, denn der Lärm des Gedichtgebirgswasser ist groß. So stehen sie sich ein paar Sekunden gegenüber.

Der Lyrische ist ratlos. Zurückgehen kann er nicht. An so was ist er nicht gewöhnt, denn Gedicht- und überhaupt Buchweltmenschen existieren ja nur, indem sie vorwärts, ihren thematischen Zielen entgegen leben.

Was ist das für ein merkwürdiger Leser? denkt der Lyrische verzweifelt. Bis jetzt folgten die Leser mir immer auf dem Fuß, und ich kam jedesmal glücklich zu meinem Schatz. Warum steht dieser hier vor und nicht hinter mir? Das ist doch gegen jede Lese-Lebensregel!

Aber weil er in thematischer Eile ist, will er den anderen nichts fragen, und so schreit er zornig (obwohl es komisch klingt): „Ich will zu meiner Liebsten, hörst du?“

„Und ich komme von deiner Liebsten“, erklärte ihm der Leser frech. Dabei grinst er spitzbübisch. Nein, er ist ganz bestimmt ein sehr ekelhafter Vertreter seiner Gattung.

„Wa…wa…was hast du bbbbei ihr gemacht?“ fragt der Lyrische, dem nichts Gutes schwant, tonlos, aber immer noch laut genug, um durch das Getöse des Stromes vernehmbar zu sein.

 „Ich habe sie gelesen“, antwortet der Leser, häßlich lachend. „Was denn sonst?“

„Aber…aber…“, stottert der Lyrische mühsam, „du kannst sie doch nur lesen, wenn ich bei ihr anlange und sie in meine Arme schließe. Das ist der normale Verlauf der Lese-Lebensbewegung in unserem Gedicht!“

„Na und?“ Der ekelhafte Leser zuckt gleichmütig mit den Schultern und sagt dann: „Ich treibe es eben andersherum. Willst, ja kannst du mir das vielleicht verbieten?“

Schweigen

„Aber wie hat sie sich nur von dir lesen lassen!“ schreit der Lyrische hysterisch. „So was geht doch nicht, weil es nirgends geschrieben, nicht textlich besiegelt ist!“

„Ich lese, wo, man, wie und wen ich will“, verkündet ihm der Leser stolz. „Hier lese ich gegen den thematischen Strom, kapiert?“

„Das ist wider die Natur!“ schimpft der Lyrische zornig. „Schäme dich!“

„Ich denke gar nicht daran“, sagt der Leser fröhlich. „Und warum findest du das Gegen-den-Strom-Lesen so unnatürlich? Ich finde es lustig.“

Du Schuft! denkt der Lyrische. Aber er kann nichts machen. Er muß, weil der Leser ihn jetzt rückwärts liest, über den Strom nach hinten retirieren und den Leser, als das Ufer erreicht und Platz dafür ist, an sich vorbeilassen.

„Auf Wiedersehen!“ ruft der ihm noch zwinkernd zu, bevor er weggeht.

Aber der Lyrische wünscht ihn zum Teufel. Ein Wiedersehen mit so einem widerlichen Leser?, denkt er grimmig, Gott behüte mich davor! Und hat vielleicht auch Recht damit, nicht wahr?

Mehr zu Giwi Margwelaschwili hier.

[Den Himmel hat ein Krieg besetzt]

Von Günther Weisenborn


Den Himmel hat ein Krieg besetzt
mit zehn Millionen Toten.
Da musst du anstehn, Jonny,
da musst du anstehn, Billy.
Aber keiner, mein Kleiner, kommt rein … hoho!
Erst muss der Himmel ein Ende größer sein.


Das war ein Massenandrang, Mann,
von Grauen, Blauen, Braunen …
Da flucht der Sammy, Jonny,
Da flucht der Tommy, Billy,
Aber keiner, mein Kleiner, kommt rein … hoho!
Erst muss der Himmel ein Ende größer sein.


Und wer den Krieg gestiftet hat
und diese Schweinerei!
Der soll beten, Jonny!
Der soll betteln, Billy!
Aber keiner, mein Kleiner, kommt rein … hoho!
In die Hölle, in die Hölle, schmeißt das Schwein!

Aus „Bist du ein Mensch, so bist du auch verletzlich. Ein Lesebuch“ von Günther Weisenborn, herausgegeben von Carsten Ramm. Der Titel des Textes stammt vom Herausgeber.

milliarden

der regen, immer wieder regen, nasse sachen, nasse leute, nasse flächen, nasse hunde, die sind besonders nass, das geräusch, das nieselnde geräusch, das wasser, das aus der höhe runterfällt, aus wolken, aus dunkelblauen, grauen, grauweißen, regen, der aufs wasser trifft, auf einen tiefen see, das ist nur ein kitzeln an der oberfläche, sieht super aus, weil es so viele tropfen sind, stürzen alle einzeln auf die große wasserfläche, jeden von ihnen könntest du sehen, wenn du milliarden augen hättest, für jeden tropfen eins, wasser analysiert, einzelne tropfen und der see, ein foto für jedes auftreffen an der aufgestachelten fläche, ein film für den zusammenprall von vereinzeltem wasser mit versammeltem wasser, sieht gut aus.

Aus „Testsiegerstraße“ von Markus Binder.

Der Revoluzzer. Der deutschen Sozialdemokratie gewidmet

Von Erich Mühsam

War einmal ein Revoluzzer,
im Zivilstand Lampenputzer;
ging im Revoluzzerschritt
mit den Revoluzzern mit.

Und er schrie: »Ich revolüzze!«
Und die Revoluzzermütze
schob er auf das linke Ohr,
kam sich höchst gefährlich vor.

Doch die Revoluzzer schritten
mitten in der Straßen Mitten,
wo er sonsten unverdrutzt
alle Gaslaternen putzt.

Sie vom Boden zu entfernen,
rupfte man die Gaslaternen
aus dem Straßenpflaster aus,
zwecks des Barrikadenbaus.

Aber unser Revoluzzer
schrie: »Ich bin der Lampenputzer
dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!

Wenn wir ihn’ das Licht ausdrehen,
kann kein Bürger nichts mehr sehen.
Lasst die Lampen stehn, ich bitt! –
Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!«

Doch die Revoluzzer lachten,
und die Gaslaternen krachten,
und der Lampenputzer schlich
fort und weinte bitterlich.

Dann ist er zu Haus geblieben
und hat dort ein Buch geschrieben:
nämlich, wie man revoluzzt
und dabei doch Lampen putzt.

Aus dem Band “Das seid ihr Hunde wert! Ein Lesebuch” von Erich Mühsam, herausgegeben von Manja Präkels und Markus Liske

Geschmacksfreiheit (2010)

Von Wolfgang Müller

 

Suchen Kinder immer nach der Bestätigung ihrer Eltern? Wahrscheinlich ist das so. Als ich beispielsweise 1987 eine Einladung nach Tokio erhielt, da rief ich aus Westberlin stolz meine Mutter in Wolfsburg an: „Stell Dir vor, Mutti, ich wurde nach Tokio eingeladen, zum Konzert!“ Meine Mutter antwortete: „Was? Mit dieser schrecklichen Musik? Du schreist da ja so herum. Und früher hattest Du eine wunderschöne Stimme.“ Hm, dachte ich.
Erst Jahre später fiel mir auf, dass ich die Musik, die meine Mutter hört, ja auch ganz schrecklich finde. Die volkstümliche Musik von Maria und Margot Hellwig, das ist doch scheußlich. Kinder können also den Geschmack ihrer Eltern hassen und sie trotzdem lieben. Und umgekehrt ist es wohl ganz ähnlich.

 

Dieser Text ist dem Band „Aus Liebe zur Kunst“ von Wolfgang Müller entnommen.

Lügen und »Lebensschutz« – Die AfD agitiert gegen Menschen mit Behinderung

Von Kirsten Achtelik, Eike Sanders und Ulli Jentsch

Die christlich-fundamentalistische »Lebensschutz«-Bewegung macht sich gerne zum Fürsprecher der von ihnen als »Schwächste der Schwachen« bezeichneten Menschen mit Behinderungen, sie tritt sonst sehr lautstark den möglichen selektiven Auswirkungen beispielsweise pränataler Test entgegen und scheut sich auch nicht, den historisch eindeutig belasteten Begriff der »Euthanasie« zu verwenden. Zu einem Antrag der AfD im Bundestag, der auf perfide Weise Behinderung, »Inzucht« und Migration in einen Kontext stellt, herrscht indes dröhnendes Schweigen.

Die AfD hat sich in letzter Zeit unter menschenrechtlich und behindertenpolitisch Engagierten keine Freund*innen gemacht. Mit ihrer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung über »Schwerbehinderte in Deutschland« suggerierte sie Ende März, dass der leichte Anstieg der Zahl der Menschen mit Schwerbehindertenausweis ursächlich mit dem angeblich bei Menschen mit »Migrationshintergrund« vermehrt stattfindendem »Heiraten in der Familie« zusammenhänge. Dies wurde in den sozialen Medien wütend aufgenommen und auch die Sozialverbände reagierten: Ende April erschien eine Anzeige von 18 Sozialverbänden und Behindertenorganisationen unter der Überschrift »Wachsam sein für Menschlichkeit« in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Damit kritisierten sie die »unerträgliche Menschen- und Lebensfeindlichkeit« der Anfrage und durchbrachen ihr bisheriges Schweigen zu sozialpolitischen Vorstößen der AfD. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, erklärte in der taz den Strategiewechsel der Verbände gegenüber der Partei: »Wir haben lange zu menschenverachtenden Sprüchen geschwiegen, um die AfD nicht aufzuwerten. Aber leider ist es ja so: Die AfD wird auch stärker, wenn man nicht reagiert.«

Die AfD-Bundestagsabgeordnete Nicole Höchst hat auf die Kritik der Verbände postwendend mit Drohungen reagiert und forderte, die Vergabe von Bundesmitteln an die Sozialverbände zu überprüfen. Diese würden »Lobbyarbeit für die Regierungsparteien« machen anstatt »ihre Mitglieder« beziehungsweise die »Interessen der Behinderten« »ordentlich« zu vertreten.

Durch ihre Behindertenfeindlichkeit fiel die Partei auch auf, als sich der AfD-Fraktionsvorsitzende im saarländischen Landtag, Josef Dörr, in einer Debatte zu Förderschulen am 18. April 2018 gegen den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung aussprach. Dabei verglich er Kinder mit Behinderung mit Menschen mit »schweren, ansteckenden Krankheiten«, die von den »anderen Kindern, die ganz normal, gesund sind« getrennt werden sollten. Auch diese Äußerung wurde von Sozialverbänden, Behindertenorganisationen und den anderen Parteien nachdrücklich zurückgewiesen.

Die einzige behindertenpolitische Position im 2016 beschlossenen Grundsatzprogramm der AfD lautet: »Die ideologisch motivierte Inklusion ‚um jeden Preis‘ verursacht erhebliche Kosten und hemmt behinderte wie nicht behinderte Schüler in ihrem Lernerfolg. Die AfD setzt sich deshalb für den Erhalt der Förder- und Sonderschulen ein.« Folgerichtig hat die Bundestagsfraktion auch derzeit keine*n behindertenpolitische*n Sprecher*in. Einzelne Abgeordnete und Landtagsfraktionen hatten indes immer wieder auf die angeblich zu hohen Kosten von Inklusion, auf die Eigenverantwortung der Eltern und vor allem die angebliche Beeinträchtigung leistungsstarker Schüler*innen durch Inklusion hingewiesen. Die sächsische AfD-Abgeordnete Andrea Kersten schlussfolgerte schon im März 2017: »Die AfD-Fraktion lehnt die Inklusion ab.«

»Lebensschutz«-Bewegung schweigt

Diese Frontstellung der Partei gegen Menschen mit Behinderung sollte sie eigentlich auch in Schwierigkeiten mit Teilen ihrer eigenen Klientel bringen: der »Lebensschutz«-Bewegung und rechten Christ*innen. Denn es ist eine der auch international beobachtbaren Strategien der »Lebensschutz«-Bewegung sich in ihrem Kampf gegen Schwangerschaftsabbrüche als einzige Vertretung von Menschen mit Behinderungen zu positionieren.

Dennoch gibt es von dieser Seite keine Kritik. In der katholischen Die Tagespost durfte der kirchenpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Volker Münz, den Antrag sogar verteidigen und die Kritik daran als »grob unwahr« und »absurd« zurückweisen. Auch von evangelikaler Seite nur Bigotterie: Die Medienagentur zeichensetzen aus Wetzlar, deren alleiniger Gesellschafter der evangelikale idea e.V. ist, organisierte und bewarb den diesjährigen Inklusionspreis für die Wirtschaft 2018, der unter der Schirmherrschaft des SPD-geführten Bundesministeriums für Arbeit und Soziales »vorbildliche Beispiele zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung« prämiert. Auf der sonst so meinungsstarken Webseite idea.de sind in letzter Zeit ungezählte Artikel und Meldungen zu behindertenpolitischen Themen erschienen, vom Feiern eines Karaoke-Internethits von Müttern und ihren Kindern mit Trisomie 21 bis hin zum Bericht über die Tagung des Bundesverbandes Lebensrecht (BVL) unter dem Titel »Abtreibung behinderter Kinder: Der gesellschaftliche Druck wächst« – doch kein einziger Artikel zum behindertenfeindlichen und rassistischen Vorstoß der AfD.

Anbiederung an die AfD

Stattdessen eine wohlwollende Berichterstattung über die offensichtliche Anbiederung der AfD an die »Lebensschutz«-Bewegung, bei der die AfD beim derzeitigen Kampf um den § 219a politisches Unterstützungspotenzial wittert. So berichtet idea über den Gesetzentwurf von Michael Frisch, familienpolitischer Sprecher der AfD-Fraktion im Landtag von Rheinland-Pfalz. Frisch, der als überzeugter Abtreibungsgegner seit Jahren durch Anfragen und Stellungnahmen gegen die »finanziellen Förderung der ProFa-Tötungsklinik« (also gegen Pro Familia) in Mainz Politik macht, präsentierte Ende April 2018 einen Entwurf zum »Gesetz zur öffentlichen Information und Aufklärung über die Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit ungeborener Kinder«, kurz Lebensschutzinformationsgesetz. 15 Cent pro pro Jahr sollen demnach Organisationen und Initiativen von jede*r Einwohner*in des Landes bekommen, die mit »sachlicher Information« die Schutzbedürftigkeit werdender Kinder »als Mitglied der menschlichen Gemeinschaft verständlich machen«.

Ausgeschlossen seien dagegen Organisationen, die »durch ihr Verhalten, ihre Äußerungen oder ihr Auftreten in der Öffentlichkeit Anlaß zu Zweifeln geben, daß sie für die Förderung des ungeborenen Kindes eintreten«, so berichtet die extrem rechte Junge Freiheit, der der Entwurf vorliegt. Im Interview mit der AfD-nahen Online-Zeitung Die Freie Welt sagte Frisch: »Dabei würden auch private Initiativen aus der Pro-Life-Bewegung Berücksichtigung finden, soweit sie Projekte anbieten, die für vorgeburtlichen Lebensschutz werben.« Interessanterweise will Frisch sich auch der ausgeweiteten Themenpalette der »Lebensschutz«-Bewegung annehmen, er nennt den Embryonenschutz und die »Leihmutterschaft, aber auch die Problematik des menschenwürdigen Sterbens und der Sterbehilfe.« Bezeichnend ist die Auslassung des Themenfeldes Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik – eben jenes, in dem die »Lebensschutz«-Bewegung unter dem Slogan »Inklusion beginnt vor der Geburt« punkten kann und in welchem ihr die AfD diametral mit ihrer Inklusionskritik entgegen steht.

Desinformationsmobilisierung

Und es ist auch Michael Frisch, der in jenem Interview auf dem Blog Die Freie Welt eine weitere aktuelle Kampagne der »Lebensschutz«-Bewegung ausbreiten darf. Die freie Information und der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen, wie sie das EU-Parlament fordert, wird von ihm als »Abtreibungsgeschäft« diffamiert. Angeblich bereite »die Abtreibungslobby« vor, »Abtreibung als Menschenrecht zu definieren«, wodurch »jeder Widerstand dagegen zu einem Grundrechtsverstoß« werde. Das Ergebnis sei »eine moralische Katastrophe und eine radikale Abwendung von der europäischen Menschenrechtstradition«.

Was Frisch hier so dramatisch skizziert, basiert tatsächlich auf einer Falschdarstellung, die derzeit vor allen von dem Netzwerk rund um die AfD-Europaabgeordnete Beatrix von Storch verbreitet wird. Das EU-Parlament hatte am 1. März 2018 in einer »Entschließung zur Lage der Grundrechte in der Europäischen Union 2016 (2017/2125(INI))« in dem Abschnitt »Diskriminierung« einzig anerkannt, »dass die sexuelle und reproduktive Gesundheit von Frauen mit zahlreichen Menschenrechten im Zusammenhang steht, darunter dem Recht auf Leben, dem Recht, nicht der Folter unterworfen zu werden, dem Recht auf Gesundheit, Privatsphäre und Bildung sowie dem Diskriminierungsverbot« und das gleiche Recht für »Menschen mit Behinderungen« betont.

So weit, so banal. Kein Wort davon, dass Abtreibung als ein Menschenrecht definiert werden soll oder eine Weigerung von medizinischem Personal, an Abtreibungen mitzuwirken, ein »Grundrechtsverstoß« darstellen soll. Diese Kampagne erinnert stark an die Methoden der Diffamierungen und absichtsvollen Verdrehungen, wie sie in den letzten Monaten auch in der Auseinandersetzung um den Paragrafen 219a eingesetzt wurden. Hier treffen sich AfD, die »Lebensschutz«-Bewegung, aber eben auch die Rechtskonservativen in der Union in ihrem erklärten »Kulturkampf« gegen reproduktive Rechte, in dem offenbar auch die Wahrheit gebeugt werden darf.

 

Dieser Beitrag erschient zuerst auf apabiz.de.

Die drei Autor*innen haben gemeinsam das Buch „Kulturkampf und Gewissen. Medizinethische Strategien der »Lebensschutz«-Bewegung“ veröffentlicht, das sich eingehender mit den in diesem Text verhandelten Themen beschäftigt.

Berlin, Juni

Von Klaus Wildenhahn

Nur dein Abend
schluckt in fremden Räumen
den Alltag im Kissen,
nur wenn der Abend dein ist.
Abgerissen das Dunkel,
gefallen mein trächtiger Kern
aus der steinernen Müde, Stadt.
Innen
die Insel
des Kindes erhärtet,
Kontur der Märchen wächst aus
dem Atem der Muschel.
Schlaf gebettet unter
Geruch von Harz –
Tropfen
vom kleinen Stamm
deiner Brust
nieder
in die Kammer fremder Kissen.

Aus „Abendbier in flacher Gegend“, 2015.

#fuckracism

Von Frédéric Valin

K. hat Schwierigkeiten mit Menschen. Er erkennt ihre Grenzen nicht. Er versteht nicht, dass nicht jeder, wenn er vor ihm steht, das gleiche Bedürfnis hat wie er, die gleichen Wünsche, das gleiche Weltempfinden. Es ist schwierig für ihn, zu verstehen, dass er, fast zwei Meter groß, A., die ihm kaum bis zum Bauchnabel reicht und ein Drittel von ihm wiegt, Angst macht, wenn er wie ein wilder Schwan, mit weit ausgebreiteten Armen, auf sie zustürmt, um sie zu umarmen. Er freut sich doch, warum sie nicht?

Es gibt die Tendenz, Menschen, die in Heimen wohnen, durchzudiagnostizieren. Die medizinische Abdeckung ist hier sehr gut, es kommen regelmäßig Spezialisten ins Haus. Das führt dazu, dass alles ein Symptom sein kann. Jemand steht spät auf? Vielleicht eine Depression. Jemand spricht mit sich selbst? Vielleicht psychotisches Erleben.

Man kann K.s Geschichte als medizinischen Fall behandeln. Ich sehe darin aber keinen Erkenntnisgewinn. Die Brüche, die seine Geschichte bestimmen, scheinen mir interessanter. K. wuchs, bis er elf Jahre alt war, relativ stabil auf, dann wurde er aus seinem sozialen Umfeld gerissen; durch längere Krankenhausaufenthalte, seine Eltern trennten sich und sein Vater zog aus, er zog mit seiner Mutter für eine Weile aufs Land, wo er kaum Anschluss fand. Es folgten zwei weitere Umzüge, er verpasste ganze Schuljahre, irgendwann zogen Mutter und Sohn wieder zurück, mit Anfang zwanzig kam er zu uns, in eine begleitete Wohngruppe.

Ich habe ihn einmal gefragt, ob er eigentlich Schulfreunde habe, mit wem er so gespielt habe in seiner Kindheit. Er erinnerte sich an einen Jungen aus der Nachbarschaft, mit dem habe er Tischtennis gespielt und im Sandkasten gebuddelt. Warum er mit diesem Jungen keinen Kontakt mehr habe, fragte ich, da sagte K.: Der hieß so komisch.

K.s Vater ist Rassist. War Rassist, muss es heißen, er ist inzwischen verstorben. Ich habe ihn häufiger erlebt, wie er abfällige Bemerkungen machte über Menschen „mit komischen Namen“, über die Ausländer, über die ganzen Illegalen, die den Sozialstaat usw. Auch in K.s Wortschatz finden sich rassistische Bezeichnungen, und es ist sehr schwer, ihm immer wieder zu erklären, warum man dieses und jenes Wort nicht benutzt. Ich nehme an, er hat diese Bezeichnungen von seinem Vater übernommen.

Jedenfalls erklärte K. mir kürzlich erst – ohne dass ich danach gefragt hätte – dass er diesen Jungen mit dem komischen Namen deswegen irgendwann nicht mehr getroffen habe, weil sein Vater das nicht gut gefunden hätte; mit solchen Leute gäbe man sich eben nicht ab. Die einzige potentielle Freundschaft, die K. hätte haben können, ist zerstört worden durch den Rassismus seines Vaters. Hin und wieder erzählt K. inzwischen von diesem Jungen, er ist das einzige Nicht-Familienmitglied, das K. aus seiner Kindheit erwähnt. Den Namen hat er mir aber bis heute nicht gesagt.

 

Der Text erschien zuerst am 26. August 2018 auf dem Facebook-Profil von Valin,  facebook.com/freval