Das Nashorn. Ein Kindergedicht.

Von Giwi Margwelaschwili

 

Nein, Kinder, nein, ich bin nicht froh
Ein normales Nashorn steht im Zoo.
Ich aber steh auf dem Papier
Und frage mich, was soll ich hier.

Immer muss ich um mein Dasein beben.
Denn gelesen werdend leben
Ist sicher das Beschwerlichste
Und auch noch das Gefährlichste.

Was mach ich armes dickes Biest,
Wenn mich keiner liest?
Auf meinem miesen Zeilengrund
Sterb ich noch am Leserschwund.

Ach, ich fürchte den Lesertod!
Drum, Kinder, hört mein Angebot:
Für mein Überleseleben
Möchte ich mich euch zum Reiten geben.
Doch dazu braucht es Phantasie
Kleiner Leser hast Du sie?

Aus dem Band „Verfasser unser. Ein Lesebuch“ von Giwi Margwelaschwili

C wie Charlottenburg

Von René Hamann

Es war ein dunstiger Tag im November, als ich mich nach Charlottenburg aufmachte. In diesem Stadtteil bin ich schon einmal gewesen, ich habe sogar schon einmal dort übernachtet, was allerdings lange her ist, das war bei meinem ersten Besuch in Berlin 1993. Wir teilten zu fünft eine uns fremde Wohnung. Irgendwo in Charlottenburg. Damals hatten wir ein Auto, einen weißen Mercedes, der es uns ermöglichte, des Nachts durchs Brandenburger Tor zu fahren. Gute, alte Zeiten. Lange vorbei. Heute musste ich mit der U-Bahn fahren. Mit der U2, um genau zu sein. Schönhauser Allee stieg ich ein.
Leider bin ich wohl vorher in herumliegende Hundefäkalien getreten, was mir erst Märkisches Museum auffiel. Zum Glück war der Wagon leer, ich stellte den betroffenen Schuh vorsorglich fest auf den Boden. Bis Gleisdreieck ging alles gut, dann stieg eine Schulklasse zu. Aufgekratzte Mädchen und Jungs, die sich verschwörerisch um den Ort der Schande herumdrapierten; mir gegenüber eine zufällige Reihe Rotjacken, direkt neben mir die Lehrerin. Nach drei Stationen begann die dem Schuh am nächsten platzierte Rotjacke, ein Mädchen mit furchterregend baumelnden Zöpfen, das erste Mal „Hier stinkt’s voll“ vor sich hin zu stammeln; noch hatte sie mich als Herd nicht ausgemacht. Auch schien sie eher von der unauffälligeren Sorte zu sein, die anderen jedenfalls reagierten nicht. Zum Glück stieg ein Strubbelhund mit Dame („Der heißt Max!“) zu, der für genügend Ablenkung sorgte. Ich beschloss, bei der nächsten Volksabstimmung gegen die Einführung von Schuluniformen zu stimmen und sah nervös dem Abgang der Schulklasse an der Deutschen Oper entgegen.
Ich stieg am Sophie-Charlotte-Platz aus und trottete verschämt einigen Seniorinnen hinterher. Als ich versuchte, den Schuh an Gras und Stein sauber zu machen, pfiff mir ein eisiger Wind um die Ohren; meine Mütze hatte ich offensichtlich in der Bahn vergessen. Ein wunderliches, kinderloses Pärchen blaffte mich an, weil ich bei Rot die meilenweit autofreie Straße zum Schloss überquerte. Das Schloss wartete mit absurden Eintrittspreisen auf; an dem See dahinter, nicht viel mehr als ein Karpfenteich, wurde ich von einem böse dreinschauenden Schwan verscheucht. Dann setzte Schneeregen ein. Charlottenburg meinte es nicht gut mit mir.

Auszug aus dem Buch „Das Alphabet der Stadt. Berliner Szenen“ von René Hamann

Nein, vielen Dank!

Von Benjamin Stein

Wenn sich Autoren treffen, um darüber zu diskutieren, wie sie sich ihr Schreiben in der nahen Zukunft vorstellen, möchte man annehmen, es ginge um Formfragen, um Genrewahl, Sprache – kurz: um das Wie? Denke ich dieser Tage übers Schreiben nach, dringe ich bis zum Wie gar nicht vor, denn ich komme an der Sinnfrage nicht vorbei: Schreiben im Jahr 2020? Ja, wozu denn?

Es ist, wie es sich anhört: Ich bin verdrossen. Und wenn es um mich und ums Schreiben geht, bedeutet das schon was. Seit ich 10 war, wollte ich Schriftsteller sein und natürlich rund um die Uhr und ganz und gar und ohne Kompromisse. Ich muss mir meinen Verdruss also ein wenig genauer ansehen. Warum kommt mir die Vorstellung, einen weiteren Roman zu schreiben, so unnütz vor, so wenig »lohnend«?

In der Art, wie ich die Frage stelle, steckt schon viel von der Antwort. Was bedeutet im Zusammenhang mit Literatur »lohnend«? Und warum rede ich geradezu automatisch von einem weiteren Roman?

»Lohnend«, das hatte für mich im Hinblick auf Literatur nie etwas mit kommerziellem Erfolg zu tun. Wenn ich mir etwas von meiner künstlerischen Arbeit gewünscht habe, dann dies: dass sie für einige Menschen wirklich etwas bedeutet. Es gibt Bücher, die mich verändert, die mir die Augen geöffnet haben. Solche Bücher wollte ich schreiben. Pathetisch, aber weniger wollte ich nie. Ich dachte tatsächlich, genau dafür sei Literatur da.

Schaue ich mich heute um, scheint die Literatur vor allem für den Betrieb da zu sein. Dabei handelt es sich um ein Kommerzding aus der Unterhaltungsbranche. Aus den meisten von Unternehmerpersönlichkeiten geführten Verlagen sind als Profit Center innerhalb von Konzerngebilden geführte »Marken« geworden. Verkaufszahlen, Long- und Shortlisten und sonstwas für Rankings sollen uns bekümmern, denn nur vom Verkauf leben schließlich jene, die uns die Gnade erweisen, unsere Bücher zu drucken oder zu besprechen. So groß ist die Flut der Novitäten, dass schon von Glück reden kann, wer sechs Wochen nach Erscheinen noch in den Regalen der Buchhandlungen behalten wird. Damit ein Buch überhaupt diese Chance erhält, bemerkt zu werden, muss das Gesamtpaket passen. Das Genre zuerst. Gedichte oder Erzählungen gehen nicht. Ein Roman muss es sein, mindestens 300 Seiten, flüssig erzählt, ohne spürbaren Verlust auf Hörbuchlänge kürzbar und natürlich bestens zu verfilmen. Dann bitteschön soll der Autor noch Leib und Seele dran geben. Am besten schreibt man in seinem ganzen Autorenleben nur ein einziges Buch: die total authentische, streamlined verthrillert witzige true story, die mit dem eigenen Leben und Leiden durch und durch beglaubigt ist. Interviews, Fotos, Lächeln hier und performen dort. Wer nicht ein großer Entertainer ist und mehrere Sprachen fließend spricht beim Springen durch den Feuerreifen, der kann gleich zu Hause bleiben. Von wegen Kanon und Ewigkeit und Reden über die letzten Dinge! Den Zirkus mitmachen oder nicht wahrgenommen werden – das, will uns der Betrieb weismachen, seien die einzigen Optionen.

»Nein, vielen Dank!« So sagt es Cyrano de Bergerac im gleichnamigen Theaterstück von Edmond Rostand. Das lohnt zu lesen:

»Wie soll ich’s halten künftig? / Mir einen mächtigen Patron entdecken / Und als gemeines Schlinggewächs dem Schaft, / An dem ich aufwärts will, die Rinde lecken? / […] / Niemals! Soll ich als lust’ger Zeitvertreiber / Nach großem Ruhm in kleinem Kreise spähn […] / Für meine Verse dem Verleger, / Der sie mir druckt, bezahlen runde Summen? / […] Vor jedem Literatenklatsch erblassen / Und eifrig forschen: Werd ich anerkannt? / Hat der und jener lobend mich genannt? / Niemals! Stets rechnen, stets Besorgnis zeigen, / Lieber Besuche machen als Gedichte, / Bittschriften schreiben, Hintertreppen steigen? / Nein, niemals, niemals, niemals! – Doch im Lichte / Der Freiheit schwärmen, durch die Wälder laufen, / Mit fester Stimme, klarem Falkenblick, / Den Schlapphut übermütig im Genick, / Und je nach Laune reimen oder raufen! / Nur singen, wenn Gesang im Herzen wohnt, / Nicht achtend Geld und Ruhm, mit flottem Schwunge / Arbeiten an der Reise nach dem Mond […]«

Wie beruhigend! Seit 1897, als Rostand dies schrieb, hat sich wenig geändert. Es geht uns Schreibenden nicht besser und nicht schlechter als vor 120 Jahren. Wenn ich das Buch nicht als Ware betrachte und mich vom Betrieb nicht zum »content provider« in Selbstvermarktungs-Ich-AG machen lasse, dann könnte es gehen. Warum nicht zurückkehren zur Lyrik, mit der ich einmal angefangen habe? Warum nicht versuchen, die short story zu meistern, einfach nur der Herausforderung wegen? Oder irgendwas in Prosa machen, das zwischen den Genrewelten balanciert, ohne Rücksicht auf die Frage, ob ein Vertreter das verticken kann. Das könnte ein Heilmittel sein gegen den Verdruss. So könnte ich tatsächlich auch 2020 noch – oder wieder – schreiben.

Paradies zwischen den Fronten. Zwölf Hektar machen Geschichte

Von Rudolf Lorenzen

Sommer 1971. Der Senat von Berlin und die Regierung der DDR vereinbaren – in Übereinstimmung mit den vier Besatzungsmächten – an ihren Grenzen kleine Randgebiete, „Exklaven“ und „Enklaven“, auszutauschen: Fünf Geländestreifen mit 15,6 Hektar sollen der DDR, drei etwas größere mit 17,1 Hektar dem Land West-Berlin zugeschlagen werden – alles unbewohnte Grundstücke. In den Rahmen dieser Gebietskorrektur fällt auch ein „Korridor“ von 1 km Länge zwischen dem Zehlendorfer Ortsteil Kohlhasenbrück und West-Berlins Exklave Steinstücken. Nach fünfundzwanzig Jahren Isolierung bekommt diese kleine Gemeinde nun endlich ihren freien unkontrollierten Zugang.
4. Juni 1972. Der Vertrag tritt in Kraft. Sofort beginnt der Senat mit dem Ausbau dieser Passage, keine 13 Wochen dauert die Arbeit. Bevor der Sommer zuende geht, wird die Straße dem Verkehr übergeben.
Ein Besuch der sonderbaren Gemeinde Steinstücken kurz vor ihrem „Anschluß“.
In den Gärten blühen Tigerlilien und Rittersporn. Hinter Gestrüpp schlafen spitzgieblige einstöckige Häuser, die buntbemalten Fensterläden sind geschlossen. Eine alte Frau, in Decken gewickelt, träumt zwischen Gemüsebeeten, von Katzen umspielt.
Es ist Mittag.
Die Bernhard-Beyer-Straße ist ausgestorben. An der Nebenstelle des Bezirksamts Zehlendorf fordert ein Aushang die Einwohner auf, die Kinder von den Absperrketten fernzuhalten. Die Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h darf im Ort nicht überschritten werden. Die Säuglingsfürsorge fällt in diesem Monat aus. In Zehlendorf ist Kurkonzert.
Die Seitenwege, die Wege rings um das Dorf, die Verbindungen von Haus zu Haus haben die Bewohner selbst gebaut. Eines Tages vor elf Jahren nahm man ihnen die Randstraßen fort: Die Steinstraße, die Teltower, die Rote-Kreuz-Straße. Stacheldraht wurde bis an den Privatbesitz vorgeschoben, da blieb nur die Selbsthilfe. Jeder gab ein Stück eigenen Bodens ab, gemeinsam legte man Pfade zwischen den Gärten an – jeweils vier Meter breit, in einer Gesamtlänge von 500 Metern.
Wir sind in der Exklave Steinstücken, sind in dem mittlerweile berühmt gewordenen Ort, der, abgetrennt von West-Berlin, 25 Jahre lang sein separates Leben führte mit eigener Gesetzlichkeit und Moral, eigenem Mit- und Gegeneinander, eigenen Gefahren und die Gewöhnung an die Gefahren, mit insularer Politik zwischen den Fronten von Ost und West – ein kleiner Fleck, insgesamt 12 ha 67 ar groß, voller Gärten und Wiesen, Beeten, Hecken und Bäumen, an der engsten Stelle 200 Meter, an der ausgedehntesten 600 Meter breit: In unruhigen Tagen Krisenherd der Weltgeschichte, in ruhigen Tagen Idylle inmitten paradiesischer Abgeschiedenheit.
1947 wurde das Dorf Steinstücken zum „Fall Steinstücken“. Die dem US-Sektor zugeordnete Exklave sollte an den Bezirk Potsdam abgetreten werden, schon gab die Sowjetische Zone Raucher- und Seifenkarten aus, worauf sich die Gegenseite beeilte, die Sonderzuteilungen der Westsektoren zu streichen. Die Bewohner protestierten, doch der Zehlendorfer Bürgermeister verweigerte sich ihnen, das Berliner Stadtparlament erklärte sich als nicht zuständig, und die US-Militärregierung überhörte den Appell.
Vier Jahre lavierte sich der Ort so durch, dann bereitete die frisch etablierte Deutsche Demokratische Republik dem „unnatürlichen Zustand“ ein gewaltsames Ende.
Es ist ein Tag im Oktober 1951. Über Steinstücken liegt eine unheimliche Stille, die Bewohner bleiben in ihren Häusern. Auf der Dorfwiese lagern zwischen Geschützen und Munitionskästen Soldaten der Roten Armee. Am Orensteinweg klebt an der Wand noch eine westliche Zigarettenreklame, daneben hängt schon die „Bekanntmachung des Rates der Stadt Potsdam“. Westberliner Gesetze verlieren ihre Gültigkeit. Die Mark (Ost) wird Zahlungsmittel. Zuteilungen für Kohlen gibt es in der Grundschule, Straße 34 in Potsdam.
Plötzlich ist auch die Telefonverbindung mit dem Westen unterbrochen, und dem Landbriefträger aus Kohlhasenbrück wird die Zustellung der Post verweigert. Beauftragte der Landesregierung Brandenburg kommen und verkünden dem Dorf die Befreiung. Doch die Bewohner lehnen es demonstrativ ab, bei der Aufklärungsversammlung zu erscheinen.
Obgleich es ein milder Oktober ist, tragen die patrouillierenden Volkspolizisten bereits die Winteruniform. Am Rande des Kiefernwaldes steht ein Lastwagen mit Anhänger: ein Fliegender HO-Laden, mit roten Spruchbändern geschmückt, bietet Schnaps und Kartoffeln an. Aus den Sowjetquartieren am S-Bahnhof Griebnitzsee hört man leise russische Volksmusik.
US-Stadtkommandant Mathewson bezeichnet den Überfall auf die Exklave als Willkürakt, als Verletzung des „44er Abkommens der Europäischen Beratungskommission“, doch wird es noch zehn Jahre dauern, bis sich die USA wieder an ihre Rechte erinnern werden.
Sechs Tage dauert die Besetzung, dann ziehen die Soldaten nach einem unerklärlichen Befehl der Sowjetischen Kontrollkommission ab. In West-Berlin jubelt der Regierende Bürgermeister Ernst Reuter: „… wieder ein Sieg des Mutes und der Entschlossenheit gegen den Kommunismus!“
Doch der Jubel ist kurz. Gleich am nächsten Tag sind die Volkspolizisten wieder da, umstellen die drei Mann des frisch aus Zehlendorf eingetroffenen Landpostens der Berliner Polizei, verhaften einen Reporter und einen Fotografen.
Ein kurzer Zwischenfall, andere werden folgen.
In den Jahren danach wird Steinstücken nicht zur Ruhe kommen: Blockaden, Belagerungen und Hausdurchsuchungen lösen einander ab. Die einzige Zufahrt, fest in den Händen der DDR, wird mal mit Baumstämmen, dann wieder mit Eisenschienen und Feldsteinen gesperrt. Versorgungsgüter können nur mit Fahrrädern und Handkarren transportiert werden.
Der Landposten der Zehlendorfer Polizei darf nicht mehr bis zum Waldrand patrouillieren.
Die Volkspolizei fordert Passierscheine, Handwerkern wird der Zugang verweigert, nun auch dem einzigen Milchhändler.
Wieder wird ein Briefträger festgenommen.

„Wir sind nicht viele. Doch berühmt.
Willy Brandt braucht einen Passierschein.
Die Pappeln sind spitz. Die Schranke
sieht aus wie eine Kanone.
Im März brennt der Mond schon.

Im Juni liegt Schnee.
Zu Ostern lassen wir einen Luftballon steigen.
Sie brauchen Mut, mein Herr.
Kommen Sie bald. Bei Sonnenschein
spielen wir mit den Igeln.

Der Schriftsteller Rolf Haufs zieht in den Sechziger Jahren nach Steinstücken um, er mietet sich bei Professor Johann Niemeyer ein und schreibt „Das Dorf S.“:

Die Grube habe ich vor zwei Jahren ausgehoben.
Man kriegt keine Handwerker …
Sehen Sie mal nach drüben.
Auf der anderen Straßenseite
Büsche.

Sehen Sie mal genau hin.
Die beobachten uns. Daran gewöhnt man sich …
Ich hacke Holz und höre Schüsse.
Eine Übung, sagt Herr Faßbender,
daran gewöhnt man sich.“

Die Existenz Steinstückens ist eine Frage der Versorgung. Sie war es in den bösesten Tagen des Kalten Krieges, sie bleibt es in den Zeiten leichter Entspannung. Man arrangiert sich.
Am 22. September 1961 landet General Lucius Clay, Berater des US-Präsidenten Kennedy in Berlin-Fragen, auf der Wiese mitten in der Exklave. Jubel. Blumensträuße. Wein. Das kleine Dorf und der Kontinent Amerika stoßen mit den Gläsern an.
Ein halbes Jahr später werden aus den USA eine Fernsehtruhe und ein Radio mit Stereo-Plattenspieler eingeflogen. Die Geräte gehören allen und werden im Gemeindesaal angeschlossen.
Der vierte Donnerstag im November 1962. Thanksgiving Day. Der US-Kommandant der Sektorenstadt schenkt jedem Steinstückener einen Truthahn – 183 Portionen gefüllte Pute. Zum Nachtisch Kürbiskuchen.
Nun kommt auch wieder einmal täglich der Postbote. Zwischen halb zehn und halb zwölf. Bei Telefonstörungen genießt die Exklave Vorrang. Eine Gemeindeschwester leistet Erste Hilfe. Sie betreut Säuglinge und macht den Botenweg zur Zehlendorfer Apotheke.
Ein Schäferhund erkrankt. Der Amtsarzt findet sich ein und bringt, obgleich ein Verdacht auf Tollwut nicht besteht, den Hund ins Tierheim Lankwitz. Alle vier Wochen kommt der Pfarrer und hält eine Andacht für die Betagten, denen der Kirchgang zur nächsten Gemeinde zu weit ist. Wer stirbt, findet seinen Weg zum Alten Friedhof Wannsee.
Aber immer noch kommen Strom, Gas und Wasser aus der DDR.
Wer in Steinstücken lebt, darf ungehindert die Grenze passieren. Unter den West-Berlinern dagegen ist nur denen der Zugang gestattet, die in der Exklave ihren Zweitwohnsitz angemeldet haben. Es sind in erste Linie Verwandte, als dann die Männer der Feuerwehr, Ärzte und Tierärzte, Handwerker, Postangestellte und Lieferanten. Jede Familie im Dorf beherbergt zur Scheinmiete bis zu zwei Dutzend Untermieter.
So zeigt die Statistik ein merkwürdiges Bild: 192 Personen wohnen tatsächlich hier, doch das Meldeamt in Zehlendorf registriert etwa 2 000 Steinstücken-Bewohner.
Doch selbst derlei geringfügige Befugnisse konnten sich plötzlich und willkürlich ändern.
Wir gehen die Bernhard-Beyer-Straße hinunter, biegen links ein und kommen zum einzigen Ladengeschäft des Ortes, einer Gemischtwarenhandlung wie aus alten dörflichen Zeiten. Dort steht ein Kühlschrank mit einem Fassungsvermögen von zweihundert Litern.
Einst machte er Geschichte, gelangte durch Schlagzeilen wochenlang zu Ruhm. Sein Vorgänger, ein altes Modell, hatte von einem auf den anderen Tag versagt. Wieder einmal war gerade den Handwerkern der Zugang verwehrt, die Tiefkühlware verdarb, die Butter wurde ranzig, Kleinkinder blieben ohne Frischmilch.
Besonders die unversorgten Babys wurden von den Medien hochgespielt und erregten die Öffentlichkeit. Da entschloß sich das Bezirksamt Zehlendorf, diesem Scharmützel des Kalten Kriegs ein Ende zu bereiten: Es schenkte der Gemeinde einen neuen, eben diesen, den heutigen 200-Liter-Kühlschrank.

„Danger.
Rain and wind. Green green trees.
Scheinwerfer. Zäune.
Danger.

You are leaving American sector
Wir fahren über einen Waldweg. Hasen laufen quer … Telefonmasten laufen mit. Die Kabel hängen durch.
Porzellanköpfe.

Hinter den Bäumen, Büschen, hinter hundhohem Gras
Bahngeleise.
Fünfzehn Minuten also.
Der Koffer wurde nicht kontrolliert.“

Durch den Wald von Potsdam führt – 1,2 Kilometer lang – die Zufahrt von der Dorotheenstraße in Kohlhasenbrück nach Steinstücken – mal mehr, mal weniger blockiert. An dieser Stelle blieb einmal ein Krankentransport in einem Schlagloch stecken, an einer anderen nahm man wieder einmal einen Briefträger fest. Hier stoppte man einen Milchmann, dort eine Feuerwehr. Da hinten an der Schranke stand oftmals der Bürgermeister der Nachbargemeinde und winkte hinüber – hilflos.
Und heute noch ist jedes Loch und jede Sperre im Slalomverkehr eine Erinnerung.
Juni 1971. Längst ist der Wald zur breiten Schneise abgeholzt. Sichtfeld. Schußfeld. Nun ist inmitten die Behelfszufahrt ihrem Ende nahe. In einem Jahr wird sie von der neuen Straße ersetzt sein – gemäß dem „Berlin Abkommen für die Neuordnung der Exklaven und Enklaven“.
Im Rahmen des Gebietsaustauschs erhält West-Berlin diesen Korridor zwischen Kohlhasenbrück und Steinstücken. Sieben Meter breit wird die Fahrbahn, hinzu kommen Geh- und Radweg, unbefestigte Rasenkante und eine Randstreifenmulde für die Entwässerung – alles zusammen in einer Breite von 20 Metern.
Die Pläne liegen in der Schublade von Herrn Rothkegel, dem Bürgermeister des CDU-regierten Bezirks Zehlendorf. In seinen Kalender notiert er sich: „28. September 1972 Feierliche Eröffnung“.
Wird er es schaffen?
Wir betreten die Baustelle. Sechs Tage in der Woche wird gearbeitet. Schnell. Denn auch bei Verzögerungen darf der Winter nicht über das Projekt hereinbrechen.
Zur Gewährleistung der Baufreiheit stellt die DDR vorübergehend Randstreifen zur Verfügung – auf beiden Seiten je zehn Meter. Nur ein paar rote Fähnchen kennzeichnen die Grenze zwischen der DDR und dem neu gewonnenen West-Territorium.
Doch eine echte Entspannung ist es nicht. Gleich dahinter steht schon die neue Mauer aus Beton-Fertigteilen. Sie ist für eine lange Zukunft gebaut. Wohl für immer. Etwas entfernt ist Stacheldraht gelagert und wartet auf seine spätere Verlegung zwischen Straße und Mauer.
Keine zwanzig Mann beschäftigt die Baustelle. Handarbeit tritt in den Hintergrund, Maschinen übernehmen das meiste: Planierraupen, Rüttelwalzen, Radlader. Sand muß von weither angefahren werden, denn durch die Rodung der DDR-Bautrupps für Sicht- und Schußfeld der Kollegen von der Grenztruppe ist der Boden verunreinigt und für eine so neue, so schöne Trasse unbrauchbar.
Auf halber Strecke wird ein Brunnen angelegt. Der Wasserdruck vom Königssee war zu schwach und reichte nicht für die ständige Bewässerung der gewalzten Strecke aus. Nun pumpt ein Dieselaggregat der Baustelle eigenes Wasser herauf.
Da! Plötzlich ist die Mauer unterbrochen! Dreißig Meter lang klafft die Lücke. Hier kreuzt der alte, eben noch benutzte Behelfsweg den neuen, bald freigegebenen festen Straßenverlauf. Volkspolizisten haben sich zur verstärkten Einheit versammelt und sich zu beiden Seiten der Lücke postiert.
Sie beobachten uns. Sie verfolgen uns. Nicht für einen Moment setzen sie ihre Feldstecher ab.
995 Meter lang wird das Projekt, 3,5 Millionen DM soll es kosten. Hinzu kommen 1,3 Millionen für den Leitungsbau. Das ist erst einmal die Kalkulation. Von späterer Teuerung wird nicht gesprochen. Denn auch die Versorgung mit Strom und Wasser wird künftig der Westen übernehmen.
Schon immer klagten die Einwohner über schwankende Stromspannung zwischen 110 und 140 Volt. Stärkere als 60-Watt-Glühlampen konnte man nicht verwenden, und auch der Fernseher flimmerte und flimmerte. Die Dörfler klagten über den niedrigen Wasserdruck des Potsdamer Wasserwerks. Die Badewanne zu füllen, dauerte knapp eine Stunde, und in Trockenzeiten spülten nur noch die Toiletten im Erdgeschoß.
Doch als Schikane ist dies der DDR nicht anzulasten. Ganz Babelsberg ringsum leidet an diesem Versorgungsmangel. Ja, zuweilen erlaubten sich die Behörden jenseits, das „ausländische“ Steinstücken vorrangig zu bedienen. Da fuhren drüben entlang der Mauer längst schon die Wagen mit dem Wasser, das in den Häusern des Exklave immer noch weiter aus dem Hahn floß.
Alles soll von nun an besser werden, auch wenn die neuen Herren bislang noch nicht an eine Kanalisation denken. Zu teuer würde ein derartiges Projekt für eine so kleine Gemeinde, und überdies finden sich ja auch ringsum in den Nachbarorten des sogenannten Zonenrandgebiets Sickergruben.

„Der Hubschrauber kommt über den Wald.
Er sucht nach dem Dorf S.
Er sucht nach einer Wiese.

Hühner rennen mit vorgestreckten Hälsen.
Der Hubschrauber steht in einer blauen Benzinwolke über S.
Das Gras duckt sich.
Eine Leiter wird heruntergelassen.
Soldaten klettern heraus.
Sie werden Schokolade verteilen.

Jetzt laden sie DANGER aus. Zelte. Zeltstangen. Kessel.
Eine Fahne.
Stars and Stripes. Rauch und Wolken über S.“

Es ist Herbst 1961. In der Bernhard-Beyer-Straße Nr.10 hinter dem Haus der Bezirksamts-Nebenstelle auf einer Terrasse zwischen Liegestühlen, Gartenmöbeln und Berlin-Souvenirs residiert die US-Besatzungsmacht – repräsentiert von drei GIs.
Am 23. September flogen sie mit dem Helikopter der Army ein.
Sie haben Zelte bei sich, Luftmatratzen und leichte Waffen – ein kleines Kommando, umgeben mit einem Hauch von „Geheimer Mission“. Top secret.
Und doch kennt ringsum jeder Zivilist den militärischen Alltagsablauf, die dienstlichen Patrouillen, die außerdienstlichen Spaziergänge, jede Ankunft, jeden Abflug, die Ablösung der Posten an zwei festgelegten Tagen der Woche – jeweils zwischen zehn und fünfzehn Uhr.
Das nun ist das Ende der „Offenen Gemeinde Steinstücken“.
Denn der neue militärische Schutz bringt den Bürgern auch Beschränkungen: Noch am Abend zuvor tranken sie in Babelsberg ihr Bier, nun versperrt ihnen Stacheldraht derlei Ausflüge. Für die DDR nämlich ist die US-Besetzung eine Provokation, eine „unerhörte Verletzung des Luftraums“.
Zuerst kommen die Spanischen Reiter, sie werden bis auf einen halben Meter an die Häuserzeilen vorgeschoben. Die Bürgersteige werden DDR-Territorium. Dann folgen die Beobachtungstürme. Scheinwerfer werden installiert, der Kahlschlag erweitert, der Stacheldraht verdichtet.
Zwischenfälle lassen nicht auf sich warten: Volkspolizisten werfen Steine auf das feindliche Flugfeld, die Amerikaner antworten mit Tränengas- und Rauchgranaten. Einem Sergeanten reicht die lasche Reaktion nicht aus, er betrinkt sich, schießt den DDR-Grenzern vier Lampen aus und wird dafür mit einer Strafe von 150 Dollar belegt.
Zeitweilig verstärkt die Army ihr Platoon von drei auf zwanzig Infanteristen. Vorübergehend landen auch Pioniere und bauen das Airfield zur Airbase aus. Das US-Operationsgebiet wird zur Gefahr für die Zivilbevölkerung, es soll abgeriegelt werden, Kinder müssen von der Wiese verschwinden, die Steinstückener schimpfen: „Wir haben hier schon genug Draht! Und jetzt noch dieses Gitter für die Wiese der Amerikaner!“
Das läßt sich die Militärregierung nicht gern sagen und spendet – in direkter Nachbarschaft des eigenen Biwaks – dem Dorf einen Kinderspielplatz mit Rutsche und Röhren, mit Bänken für die Mütter und, als sinnvolle Attraktion, einen Kinder-Hubschrauber als Klettergerüst.
Später wird sich in der Erinnerung amerikanischer Reservisten „Steinstukken“ zum „little paradise“ verklären. Einer von ihnen, Honoré M. Catadul, schreibt über seine Dienstzeit ein Buch: „A Study In Cold War Politicals“.
9. Dezember 1964. Um Steinstücken beginnt der Mauerbau. Ein Arbeitstrupp von zwanzig Mann – die Bewachung nicht gerechnet – beginnt, die Betonplatten zu stapeln. Nach neun Tagen steht erst einmal der Rohbau, nach weiteren vier Monaten das fertige Werk – 230 m lang, 3,50 m hoch, 0,5 m breit.
Nun endlich, dreieinhalb Jahre nach West-Berlin, hat auch die kleine Exklave ihre Mauer!
Steinstücken wird in der Folgezeit zum Symbol der Kalten-Kriegs-Politik. 1967 fliegt der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz mit dem Helikopter ein, Jahre später wagt er den Landweg, begleitet vom US-Stadtkommandanten, Major-General Copp, und von Zehlendorfs Bezirksbürgermeister Rothkegel. Die CDU ist längst schon da, Heinrich Lummer hatte hier zuvor schon seinen zweiten dörflichen Wohnsitz angemeldet.
Heute im August 1972, wenige Wochen vor dem „Anschluß“, suchen wir im westlichen Ortsteil lange nach dem ehemaligen Militärstützpunkt. Nur eine wildwuchernde Wiese finden wir und als Erinnerung an die einstige Funktion einen einsamen Windsack am Rande des Landefelds. Aber nebenan bespielen die Kinder weiter ihr Reich mit Rutschen und Röhren, mit Sandkasten und Klettergerät. Und auch der Kinder-Hubschrauber steht noch da und mahnt daran, daß diese besonders kalten Episoden im Kalten Krieg nicht vergessen werden.

„Die Bahngeleise zerschneiden S. in zwei Hälften.
Auf beiden Seiten Häuser.
Zäune …
Eine Straße. Eine Telefonzelle.

Die Straße macht eine Kurve.
Kein Durchgang.
Verboten.
Warnung vor dem Hunde.“

Wild- und Zaunwärter für die Parforce-Jagden der brandenburgischen Kurfürsten und ersten preußischen Könige wohnten einst hier in den Wäldern. Später kamen Kolonisten hinzu. Danach baute auf dem Gelände einer alten Försterei ein gehobenes Bürgertum seine kleinen Backsteinvillen.
Mit der Eingemeindung von Zehlendorf als zehnten Bezirk im neu etablierten Groß-Berlin wurde am 1. Oktober 1920 auch die Siedlung Steinstücken kommunalpolitisch ein Teil der Reichshauptstadt, träumte sich jedoch – von der hektischen Metropole durch Wälder abgetrennt – weiterhin durch die kommenden Jahrzehnte, bis 1947 die wechselvolle Geschichte den Ort heraushob aus der Reihe fast namenloser Gemeinden.
Auf 49 Grundstücken, sechs davon unbebaut, stehen heute 48 Wohnhäuser und 3 Ruinen. In 65 Haushalten wohnen 192 Einwohner, davon 42 Rentner und 60 Kinder, die in Zehlendorf zur Schule gehen.
Durchschnittlich einmal im Jahr meldet Steinstücken eine Geburt. Mehr Katzen als Hunde leben im Dorf. Das einzige Pferd dient weniger der Landwirtschaft als der Pädagogik: Es ist das Spielpferd einer kinderreichen Familie. 80 Prozent der Einwohner besitzen einen Telefonanschluß, so ist die einzige Telefonzelle fast überflüssig. Der Notrufmelder ist eh außer Betrieb. Wer zur Post will, muß sich ohnehin auf den Weg zur Königstraße in Kohlhasenbrück machen.
Alle Erwerbspersonen haben ihre Arbeit in West-Berlin, ein Gewerbe im Ort rentiert sich für niemanden. Neben dem Besitzer des Gemischtwarenladens gibt es als Selbständigen nur noch einen Zwischenmeister der Damenoberbekleidungs-Branche – es sei denn, man rechnet seinen Nachbarn hinzu, der als Hobby eine Champignonzucht betreibt.
Das Auto wäre eigentlich für jeden unerläßlich, und doch bleibt einer Minderheit nur das Fahrrad, bleibt das Trampen oder der Fußmarsch zur nächsten Bus-Haltestelle in Kohlhasenbrück.
Die Alten vereinsamen. Frau Scheller ist 90, die nächstjüngeren Steinstückener sind zwei Witwen von 89 und 86 Jahren. Der älteste männliche Einwohner ist der Professor Johannes Niemeyer mit 84.
Ihnen allen wird nach dem „Anschluß“ im Spätherbst 1972 die BVG mit der verlängerten Linie des 18er Bus eine neue Verbindung nach West-Berlin offerieren. Die nur sechs Meter breite Sackgasse wird an ihrem Ortsende zum 25-Meter-Wendeplatz erweitert, groß genug für den zweistöckigen Bus, der zu Steinstückens Rush Hour dem Schul- und Berufsverkehr dienen, dazwischen aber in weiten Abständen – höchstens stündlich – zumindest den wenigen Restbewohnern das Gefühl der Einsamkeit nehmen soll.
Damit wird im Herbst der private Unternehmer des Schulbus-Dienstes arbeitslos. Seit fünf Jahren versieht er seine Aufgabe mit einem feuerroten Kleinbus täglich fünfmal hin und fünfmal zurück. Seine erste Tour beginnt um 7 Uhr früh, er fährt die Kinder zunächst zur vier Kilometer entfernten Conrad-Schule in Wannsee, dann weiter zur Dreilinden-Oberschule und am Ende zu den öffentlichen Haltestellen für die Bus-Anschlüsse. Bei plötzlicher Unpäßlichkeit eines Schülers während des Unterrichts legt er eine Extratour ein.
Am 19. September 1958 etablierte das Bezirksamt Zehlendorf in der Exklave eine hauptamtlich besetzte Nebenstelle. Der Amtsstellenleiter besaß weitreichende Befugnisse, die Ordnungs- und Verwaltungsfragen zu regeln. Der erste Amtsträger, Herr Reichow, wurde sieben Jahre später abgelöst, zu viel Reibereien hatte er mit den DDR-Grenzposten. Sein Nachfolger, Herr Grützmacher, verstand sich besser mit der Volkspolizei und scheute sich auch nicht vor gelegentlichen Verhandlungen mit dem Regimentskommandeur.
Denn nicht nachgeordnet ist dieser Posten, er fordert in Krisenzeiten manche einsame Entscheidung, manches interne Ost-West-Gespräch, das nicht immer unbedingt auf das Berlin-Festland dringen mußte.
Nun residiert im sechsten Jahr Frau Ursula Bohlmann in dieser Dépendance des Bezirks Zehlendorf. Die Amtsstube in der Bernhard-Beyer-Straße Nr. 10 ist nicht immer besetzt, doch stört das niemanden, denn Frau Bohlmann wohnt privat ein paar Häuser weiter.
Die Polizei in Steinstücken gehört schon zur Legende. 1951 noch logierte die Ordnungsmacht des Innensenats an der Bernhard-Beyer-Straße Nr. 6 in zwei Zimmern mit Telefon, Schreibtisch, Stuhl und Couch. Seit zwanzig Jahren ist der Posten verwaist. Nachdem die DDR einem ablösenden Wachtmeister die Durchfahrt sperrte, stoppt seitdem der West-Berliner Streifendienst seinen Funkwagen in Kohlhasenbrück und begnügt sich mit einem Alarmdienst hinter sicherer Grenze.
In alter Krisenzeit wurde eine Siedlerwehr gegründet, um den Feuerwehrschutz zu versehen. Schnell geschult an Hydrant, Behelfswagen mit Schlauch und Standrohr, waren die Männer den Eingeschlossenen nicht nur eine moralische Stütze, sie halfen auch beherzt beim einzigen großen Sturm vor Jahren.
Heute ist Rettung kein Problem mehr. Frau Bohlmann unterhält eine Direktleitung nach Wannsee. Den „112-Ruf“ kann sie umgehen.
„Ich lege den Hörer auf, gehe zur Grenze, keine acht Minuten, und melde dem DDR-Posten die angeforderte Hilfe. Und während dieser sich meine Geschichte noch anhört, hebt sich drüben schon der Schlagbaum für Krankenwagen oder Feuerwehr.“

„In Kohlhasenbrück an der Grenze nach S.
ein Fahrradständer, überdacht.
Mülltonnen.
Abfälle neben den Mülltonnen.

Ein Sandweg, ansteigend, an seinem Ende
eine Schranke, rot und weiß, geschlossen.
Dreh dich nicht um der Tod steht hinter dir.

Zwei Fahnen.
Die eine schwarz-rot-gold mit dem Emblem.
Die andere rot.

Der Soldat setzt sein Fernglas ab.
Ein Neuer, ruft er.
Kann passieren, sagt der andere.
In Ordnung, sagen beide.“

Otto und Anna Lorenz sind nicht mehr. Vor Jahren ging ihr Bild durch die Presse als Steinstückener Diamant-Hochzeitspaar. 84 und 81 Jahre alt.
Die beiden standen am Schlagbaum, von jenseits lächelte der Bezirksbürgermeister herüber. Blumen. Geschenke. Nun ruhen sie nebeneinander auf dem Waldfriedhof in Zehlendorf.
Auch Herr A. hatte einst einen kurzen Ruhm. Das war 1970. Seine Ehe mit einer Jugoslawin wurde weithin bekannt, aber herübernehmen in sein Steinstückener Heim durfte Herr A. seine junge Frau nicht. Sie hatte einen Ausländerpaß und hätte in West-Berlin fünf Jahre auf die Einbürgerung warten müssen. Da wurde es den Eheleuten zu dumm. So sind sie fort.
Andere sind zugezogen. Sie suchten die Ruhe vor dem Lärm und den Gefahren der Großstadt, vor Kriminalität und verschmutzten Straßen, wollten unbelästigt bleiben von unliebsamen Freunden und Verwandten.
„Schon ’53 sind wir weg von Zehlendorf. Jeden Sonntag der Sonntagsbesuch. Das hielten wir einfach nicht mehr aus.“ Und wenn nun die Straße offen ist? „Dann ist unser Haus zu.“
„Das hier war ein Paradies. Nun kommt jeder rein.“ Aber stört nicht die Mauer? „Eine Mauer hat auch etwas Gutes, da kann keiner verloren gehen.“
„Wegen dieser neuen Straße hat uns keiner gefragt. Wir haben ja alles, was wir brauchen. Aber mit der Ruhe ist es nun aus!“
Die einen oder anderen Dorfbewohner erkennen zwar die Vorteile der neuen Regelung, trennen sich aber ungern von der liebgewordenen Abgeschiedenheit der vergangenen Jahrzehnte. Sie fürchten eine Flut von West-Berlinern, die nun wochentags hier herumkrauchen werden. Sie fürchten aber auch drohende Bauarbeiten für die neuen Versorgungsleitungen, fürchten vor allem den Einzug der Kriminalität. Parkende Autos wird man wieder abschließen, Haus- und Wohnungstüren wieder verriegeln müssen.
„Und wieder hört man die Äxte! Eben noch fällten sie für ihre Sicht- und Schußfelder die Bäume drüben, jetzt schlagen sie sie hier für so eine Avus.“
Von Neubauten blieb die Exklave so gut wie verschont. 1956 versuchte man sich an einem größeren Projekt, einem Altersheim der Inneren Mission. Es blieb unvollendet, steht nun leer und verwahrlost im Wege herum.
1968 wagte sich ein Fuhrunternehmer als Bauherr an die Errichtung eines ersten – und auch einzigen – Objekts des Sozialen Wohnungsbaus. Die Kreditgesellschaft hatte ihm die Mittel für vier Wohnungen bewilligt, doch dem Architekten Alfred Zschach war es nicht vergönnt, seine Arbeit aus der Nähe zu verfolgen, sein Bauleiter mußte im Ort seinen zweiten Wohnsitz nehmen. Die Kosten stiegen und stiegen.
Nach diesem Fiasko verloren weitere Kreditgeber die Lust an einem Steinstückener Bauboom.
Den Bewohnern hier reichen ihre kleinen einstöckigen Giebelhäuser – teils mit edelweißgeschmückten Fensterläden. Die ersten dieser Eigenheime stammen aus der Jahrhundertwende, die späteren aus den Zwanziger und Dreißiger Jahren. Kleine Villen sind es, damals schon für die Isolation geplant, für eine kleine bescheidene Weltflucht.
Die spätere Grenze war noch eine Dreingabe.
Zusätzlich in sich geteilt ist der Ort durch den Bahndamm der Reichsbahn-Güterstrecke Berlin-Belzig. Das Überschreiten der Geleise, ohne in Konflikt mit dem DDR-Territorium zu geraten, führte zu immer neuen Ärgernissen. 1965 endlich fand der West-Berliner Senat in seinem Haushalt die Mittel zum Bau einer Fußgängerbrücke – 32 Meter lang, 21 Tonnen schwer, Kosten: 120 000 DM.
Doch eine innigere Dorfgemeinschaft schuf die Brücke kaum. Der linke Ortsteil blieb weiterhin die reichere, der rechte die ärmere Gegend.
Fünf Jahre ist es her, seit sich die Steinstückener fast geschlossen zusammenfanden. Es war der 13. November 1967 – zum Ball der Freiwilligen Feuerwehr. Gefeiert wurde die Wiedereröffnung der einzigen Gaststätte. Es gab Freibier. Doch bald schon wurden dem alten Wirts-Ehepaar die Anstrengungen zu viel. Sie machten den Zapfhahn zu und schlossen das bescheidene Restaurant. Doch erscheint den Dörflern der Verlust nicht allzu groß. Wer von ihnen geht abends noch aus dem Haus? Man bleibt in seiner Wohnung, auf seinem Grundstück, in seinem Garten, hinter seinem Zaun.

„Der Mann ist mittelgroß. Trägt eine braune Jacke.
Ungefähr fünfzig Jahre alt. Brillenträger.
Scheinwerfer werden eingeschaltet …
Das müssen wir allein abmachen …

Die Leute von S. hören keinen Lautsprecher mehr.
Irgendwo muß der Mann doch stecken.
In welchem Keller?
In welcher Scheune?

Die Frau hinterm Ladentisch sagt
Negerküsse sind unser großes Geschäft …
Von mir erfährt keiner was.
Das haben schon viele gesagt.“

An vieles aus der Vergangenheit erinnert sich heute niemand mehr gern: Wie viele DDR-Bürger wählten für ihre Flucht diese Exklave? Wie viele mußten zurück – doch wohl eher gewaltsam als freiwillig? In welchem Garten verhaftete am 6. August 1958 der VoPo-Unteroffizier Manfred Anlauf den republikflüchtigen Bürger Lothar Kratzsch?
Wer im Ort hatte sich bei derlei Aktionen strafbar gemacht? Wer wollte wem etwas nachsagen?
Hier gab es andere Gesetze. Von draußen ließ sich gut reden, im Notfall war niemand zur Stelle. Jeder mußte alles mit sich allein abmachen.
Dennoch ermittelte in diesem Fall die West-Berliner Justiz wegen unterlassener Hilfeleistung. Der eine soll dem Verfolgten den Unterschlupf, der andere ihm sogar ein Glas Wasser verweigert haben. Von einem dritten fielen die harten Worte: „Verschwinden Sie!“ Zwanzig Zeugen wurden geladen, jeder wurde gezwungen, gegen jeden auszusagen, ein Nachbar gegen den anderen. Es kam nichts dabei heraus. Übrig blieb nur in der Presse die Schlagzeile: „West-Berlin terrorisiert Steinstücken“.
Dann natürlich die Haftstrafen: Für den einen 2 Jahre und 8 Monate in Leipzig, für den anderen – nach dessen Flucht in den Westen – 10 Monate in Moabit.
„Seht euch dieses Schwein an!“ Wer denunzierte wen? Wer nannte wen einen Denunzianten? Es wurde viel schmutzige Wäsche im Dorf gewaschen. Sich aber Polizeibefugnisse anzumaßen und dem Nachbarn zu verbieten, im Laden Bier zu kaufen, ging doch wohl zu weit!
Das hier war immer eine Kolonie der „Rechtschaffenden“.
Drei Kunststudenten, bei Professor Niemeyer zur Miete, trugen das Abzeichen der Ostermarschierer. Es war das aufrührerische Jahr 1965. Da wurde in dieser Gemeinde der biederen Bürger derlei Protest gleich zur Provokation, ja zur Verschwörung gegen Frieden und Freiheit.
Ein US-Student floh nach einem Verkehrsunfall aus West-Berlin in die scheinbar sichere Exklave. Military Police und deutsche Polizei konnten ihn nicht verfolgen. Wohl aber die Steinstückener. In diesen Zeiten waren Studenten die „verlausten Affen“.
Zeitungen und Fernsehen spielten immer wieder mal die eine, mal die andere Affäre hoch. Nein, man wollte nicht die von allen Seiten belagerte Festung sein.

„An dem Haus hinter dem Haus ist eine Treppe.
Die Tür am Ende der Treppe ist verschlossen.
An der Tür hängt ein Schild.
Johannes Niemeyer ist in den Dahlien.

Johannes Niemeyer geht durch den Garten.
Johannes Niemeyer hat einen Strohhut auf.
Sooft er sich wendet, sieht er
auf Begrenzungen …
Das Leben macht Mühe.“

Es sind Verse von Rolf Haufs aus seinen Gedichtbanden „Das Dorf S. und andere Geschichten“, „Straße nach Kohlhasenbrück“, sowie aus weiteren Büchern.
Rolf Haufs, Schriftsteller, Jahrgang 1935, kam von Rheydt nach Berlin, zog sich als dann für einige Zeit nach Steinstücken zurück. Der Professor vermietete ihm gleich nebenan ein kleines Haus, das heute verfallen ist. Hier lebte er mit der Bevölkerung in Frieden, aber auch mit ihren Intrigen, kehrte dann in die Stadt zurück und quartierte sich in Kreuzberg ein.
Johannes Niemeyer, Professor der Architektur und Malerei, Jahrgang 1888, lebt weiter in Steinstücken – nun schon seit 43 Jahren. Studenten wohnen bei ihm, wenn sie ihm das Holz hacken, ermäßigt er ihnen die Miete.
In den Zwanziger Jahren gehörte er zur Avantgarde, er baute Landhäuser und Villen, er malte Landschaften – immer wieder Wald, Wasser und Blumen. Und immer wieder malt Johannes Niemeyer seinen Garten, die Dahlien, die Lupinen, die überwucherten Wege, malt das Ende seines Gartens an der Grenze …
In eine neue Zukunft blickt der Ort, doch vieles wird beim alten bleiben. Wenn auch nicht mehr als „Exklave“ abgeschnitten, so bleibt er doch abgelegen, sicher noch für lange Zeit, auch wenn diese neue, diese schöne neue Straße ihn mit dem Festland Berlin verbunden haben wird.
Am Ende wird Steinstücken weiterleben wie hinter den Wäldern.

Auszug aus dem Buch „Paradies zwischen den Fronten“ von Rudolf Lorenzen

Auf dem Seil

Von Benjamin Stein

wenn du das seil bist
unter meinen füßen
gespannt von first zu first
kannst du mich leben
oder sterben lassen
niemandsland ein luft-ort
schwebendes gelände
über der schlucht
zwischen zwei türmen
aschkalt der eine hinter mir
verlassen und der andere
lockt durch ungewissheit licht
wie alles das versprechen darf
und gar nichts halten muss
wenn ich schwanke tritt mein fuß
dir taumel in die seele
und dein wiederzittern
lässt mich schaudern
rudern atmen in die stille finden
sirren wirst du in der klammen luft
erst wenn ich falle
oder feiern kann am ziel
wie beim harfenspiel
der klang der saite
erst einsetzt
wenn die berührung
endet

Dieses Gedicht wurde zuerst auf Benjamin Steins Blog turmsegler publiziert.

Eine Bilanz

Von Aras Ören

Tatsächlich? Ist es fünfzig Jahre her, dass unsereins in Deutschland ist? Man nannte uns Gastarbeiter, Fremdarbeiter, später Mitbürger oder Bürger mit Migrationshintergrund. Sind wir tatsächlich Bürger dieses Landes geworden? Sind wir willkommen? Sind wir akzeptiert?
Schon Ende der 60iger, Anfang der 70iger Jahre stieg die Zahl der aus der Türkei stammenden Menschen an die Millionengrenze. Heute haben wir es mit ungefähr drei Millionen Menschen zu tun, in der dritten und schon vierten Generation. Die ersten, die kamen, wollten nicht so recht ins Stadtbild passen. Sie waren existent und gleichzeitig nicht vorhanden. Sie existierten überall, in den Straßen und U-Bahnen, in den Discount-Märkten, in den Fabriken, an den Fließbändern, in den Tiefen der Zechen, in armen Vierteln, in abrissreifen Altbauten, in nassen Hinterhöfen, mit ihren Tirolerhüten, den Billiganzügen, bunten Krawatten und den riesigen batteriebetriebenen Radiorekordern in den Händen. Dennoch waren sie nicht vorhanden: Ihre unterschiedlichen Identitäten, ihre persönlichen Schicksale wurden nicht anerkannt. Sie waren eine fremde Masse, keine Individuen.
So lautete mein Befund als junger Schriftsteller, der die Erfahrungen teilte und sie zu seinem Thema machte. „Wir riefen Arbeitskräfte, aber es kamen Menschen”, so beschrieb ein älterer Schriftsteller, Max Frisch, die Situation und diese Formulierung war schnell in aller Munde. Wir waren damit zwar gemeint, aber adressiert war dieser Satz nicht an uns. Adressat war die in Deutschland damals allgemein herrschende Meinung und Haltung.
Und gewiss waren wir Fremde, gewiss kamen wir aus einem anderen Land, aus einer fremden, meist ländlichen Kultur. Wir kamen mit unserer Musik, mit unserer Sprache, mit unserer Küche, mit ethnischen Eigenarten und Konflikten, mit Lebensgewohnheiten und religiösem Glauben.
All das hatten wir in unserem Gepäck. Wir waren jung und gesund und voller Hoffnung. Aber hier existierten wir nur als Stückzahl und bürokratische Daten; als Gastarbeiter, als Türken, als Krummsäbel, als Kümmeltürken mit anonymen Gesichtern, als ein homogenes Gebilde. Merkwürdig eigentlich. Wir waren darüber enttäuscht, traurig, gedemütigt, sogar gebrochen. Vom ersten Tag an.
Unsere Träume hatten Risse, aber wir schwiegen. Unsere verwundeten Herzen bluteten, aber wir schwiegen. Wir sprachen schweigend! Das war eine bittere Sprache.
Fuhren wir in Urlaub in die Türkei, erzählten wir viel. Aber nur Gutes. Wenn wir klagten, dann nur über das Wetter. Dabei hatten wir, als wir kamen jede Menge Gefühle, unsere Seelen flogen hoch. Wir waren alles andere als eine abstrakte Arbeitskraft.
Was wir nicht wussten war, dass wir in Almanya, in diesem hochentwickelten Industrieland Klassenmenschen sein würden, ganz unten.
Dass allein schon die Entscheidung, hierher zu kommen, die radikalste Entscheidung in unserem Leben sein würde, war uns nicht bewusst.
Die klassische Frage eines jeden Menschen „Wer bin ich?” und „Woher komme ich?” war von Stund an falsch und ungültig. Für uns stellte sich nur noch die Frage „Wer und was soll und kann ich sein.”
Es mussten viele kummervolle Jahre vergehen, bis wir die Ursprungsfrage erneut stellen konnten.
Als junger Schriftsteller auf der Suche nach seinem poetischen Ausdruck, wurde ich Zeuge all dessen. Ich erlebte die größte Arbeitskräftewanderung des Industriezeitalters im letzten Jahrhundert. Und so war es meine Idee und Hoffnung, Deutschland eine Visitenkarte der Einwanderer zu übereichen und umgekehrt. Ich wollte beide mit Hilfe von Literatur miteinander bekannt machen. Und so entstand ein langes Poem, meine „Berlin-Trilogie.“
Der dritte Band enthält am Ende folgende Zeilen aus Emines Brief:

Als ich herkam, war ich fünf Jahre alt.
Seit zehn Jahren bin ich hier, meine Brüder
sind in Berlin geboren.
Wo ist jetzt die Fremde, wo die Heimat?
Die Fremde meines Vaters ist meine Heimat geworden.
Meine Heimat ist die Fremde meines Vaters.
Streichen sie bitte meinen Namen
im Pass meines Vaters.
Ich möchte einen eigenen Pass in der Tasche haben.
Wer mich danach fragt, dem will ich ehrlich sagen, wer ich bin.
Ohne Scham ohne Furcht
und fast noch ein bisschen stolz darauf.
Das Jahrhundert, in dem ich lebe,
hat mich so gemacht,
geboren 1963 in Kayseri,
Wohnort; Berlin Kreuzberg.
Emine

Und der Schriftsteller verfasst auch folgendes: „Ein türkischer Metzger in Kreuzberg ist kein Metzger in der Türkei. Er ist ein türkischer Kreuzberger Metzger.”
Tatsächlich ist es fünfzig Jahre her, dass wir hier sind. Und in den 50 Jahren sind viele von uns Citoyens geworden. Die kleine Emine ist jetzt vielleicht selbst schon Mutter oder Großmutter.
Schon lange sind wir nicht mehr gesichtslos, sind nicht nur anonyme Arbeitskräfte.
Wir sind keine homogene Gruppe mehr. Wir entsprechen schon lange nicht mehr dem Klischeebild der Öffentlichkeit und haben ihm auch nie entsprochen. Wir sind schon lange nicht mehr ein homogenes Gebilde an der untersten Schwelle der sozialen Pyramide. Es hat schon längst die soziale Differenzierung eingesetzt.
In jeder Schicht der deutschen Gesellschaft, gibt es Menschen mit Migrationswurzeln: im Bundestag, im Landtag, in Parteien, in den Medien, als Führungskräfte in der Wirtschaft, in der Kultur und im Fußball, und so weiter.
Auf den Straßen sieht man Frauen in Hotpants und mit Kopftuch. Wir haben uns in den letzten 50 Jahren verändert, wir waren und sind eine Bereicherung nicht nur im Straßenbild. Wir haben nicht nur zum Wohlstand Deutschlands beigetragen, wir haben die deutsche Demokratie gefestigt, in dem wir sie auf den Prüfstand stellten. Denn man misst die Qualität und die Feinheiten einer Demokratie am Umgang mit ihren Minderheiten: mit anders Denkenden, anders Gläubigen, anders Sprechenden, anders fühlenden Menschen.
All das haben wir für die Deutschen möglich gemacht. Es hat sich viel verändert in Deutschland. Was sich allerdings nicht geändert hat, ist die Integrationsdebatte in der Politik und in den Medien. Und das ist eine Schande. Immer, wenn es um knapper werdende Kassen geht, machen sich Demagogen daran, für die Volksseele, die um Sicherheit und Einkommen fürchtet, einen Buhmann zu finden.
Dann wird das Migrationsthema neu aufgelegt. Politiker stehen dann vor Kameras und reden über Integration und niemand weiß, was sie meinen könnten. Sogar die Bundeskanzlerin erklärt dann von einem Tag auf den anderen – einer Offenbarung gleich – dass „Multikulti” gescheitert sei.
So, so … ! Eine Bundeskanzlerin kann regieren, kann politische und wirtschaftliche Strippen ziehen, kann Wahlen gewinnen oder verlieren. Was sie aber nicht vermag, ist die soziale Entwicklung einer Gesellschaft zurückzudrehen und diese für nichtig zu erklären.
Wenn sie wie andere auch sagt, wer hier lebe, solle sich integrieren, so klingt das in vielen Ohren wie eine Drohung. Integration ist dann eine Keule, die andauernd auf unsere Köpfe einschlägt und kommt einer indirekten „Mundhalteparole” gleich. Man fordert von uns eine Passivität, die uns minderwertig macht, weil sie uns in die Unmündigkeit abdrängt und uns zu Objekten degradiert.
Und ist im Fernsehen die Rede von Integration, dann sind im Hintergrund stets dieselben Streifen zu sehen: Kopftuch tragende Frauen mit schweren Plastiktüten in den Händen, laufen wie im Schlaf durch die Straßen. Natürlich gibt es in Deutschland solche Bilder, aber Deutschland ist nicht homogen. Es gibt unterschiedliche Schichten, es gibt viele Facetten und Farben. Es gibt die feinen Damen von der Elbchaussee oder von der Düsseldorfer Kö und die Hartz-IV Empfängerin aus Berlin Neukölln und die perspektivlosen jungen Menschen verschiedenster Herkunft – auch aus Deutschland.
In einer Zeit, in der die Globalisierung unaufhörlich voran galoppiert, in der sich die Orte auf unseren Planeten immer mehr ähneln und sich gegenseitig beeinflussen, in der Konsum, Ideologien und Kulturen immer mehr gleichgeschaltet sind, ist eine solche eindimensionale Darstellung nicht zeitgemäß. Schon gar nicht in einem Land, das sich den Werten der Aufklärung verbunden fühlt, nach der jeder Mensch ein Individuum ist und ein Recht hat, sich frei zu entfalten und über eine menschliche Würde verfügt, die unantastbar ist. Egal ob bildungsnah oder -fern.
Solche eindimensionalen Bilder passen nicht zu einem Deutschland, das ich mir wünsche und in das ich einst mit viel Hoffnung aufbrach. Denn es sind Bilder der Diffamierung und Verunglimpfung, die mit Hilfe von Sprache, Lebensart und Glauben einen Sündenbock für schwindenden Wohlstand und weniger Sicherheit in einer globalisierten Welt benennen wollen.
Solche Bilder passen nicht zu meinem Deutschlandentwurf und ich hoffe, dass sie bald der Vergangenheit angehören. Ich bin immer noch zuversichtlich. Deutschland schafft sich selbst nicht ab. Aber Deutschland muss solch schiefe Bilder abschaffen.
Deutschland sollte stolz auf uns sein und wir sollten Deutschland danken.

Ich danke ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Berlin den 17. 7. 2011
Geschrieben für die Buchmesse RUHR.2011, die unter dem Motto „1001 Nachtschichten – 50 Jahre türkische Einwanderung“ eröffnet wurde.

Bolz, Hörisch, Kittler und Winkels tanzen Pogo – erst im Ratinger Hof, dann deutschlandweit

Von Enno Stahl

Am Anfang dessen, worüber ich hier berichten möchte, steht eine kleine Anekdote. Es geht um Pogo, aber auch um Diskurse. Denn diese Geschichte hat – gewissermaßen diskurskritisch gesehen – weitreichende Folgen für die BRD der 1980er-Jahre gehabt, Folgen, die bis heute währen. Die Anekdote ist kurz und schnell erzählt: Also machen wir eine Zeitreise zurück an den Anfang der 1980er-Jahre, in den legendären Ratinger Hof in Düsseldorf …
Es ist ein völlig karger Raum, darin Punks, die damals natürlich nicht so aussehen wie Punks heute aussehen, sondern viel sauberer, ja, geradezu gesittet. Viele von ihnen trinken noch nicht einmal Bier!
Über der Tanzfläche hängen zwei Fernseher, in denen das normale Fernsehprogramm läuft, nur mit abgestelltem Ton, und die Punks tanzen zu The Clash, den Ramones, UK Subs, den Sex Pistols und vielem anderen, es läuft in voller Lautstärke. Mittendrin Norbert Bolz, Medien- und Kommunikationstheoretiker, Jochen Hörisch und Friedrich Kittler, beides Literatur- und Medienwissenschaftler, sowie Hubert Winkels, damals noch wissenschaftlich unterwegs.
Diese vier Herren hatten sich bei einer wissenschaftlichen Tagung (dem »Fugen«-Kongress) in Düsseldorf getroffen, abends dann Unterhaltungsprogramm, also Ratinger Hof. Da standen sie nun, die mehr oder weniger jungen Theoretiker und sahen der pogenden Masse zu, äußerten vielleicht das ein oder andere Bonmot über die Ikonografie des Punk und seine medialen Bilder, bis Energie und Dynamik sie so sehr mitrissen, dass sie sich in die Menge stürzten und mitmischten.
Das ist schon die ganze Geschichte, verbürgt durch zwei der Beteiligten.
Eigentlich wäre daran nichts bedeutend oder amüsant, handelte es sich bei den Betreffenden nicht um drei heutzutage gewichtige Denker und einen der einflussreichsten Literaturkritiker der Republik.
Meine These ist die: Was damals rein körperlich-sportiv begann, setzte sich später auf einer ganz anderen Ebene, der öffentlichen und wissenschaftlichen Rede, deutschlandweit fort – der Diskurspogo.
Sie alle haben maßgebliche Spuren hinterlassen, haben sich eingefräst in die bislang von 68ern besetzten Domänen, haben dabei mitgewirkt, die Weichen umzustellen. Jeder für sich, aber doch in recht ähnlicher Weise auf dem jeweiligen Gebiet. Diesen vier Autoren ist gemein, dass sie von poststrukturalistischen Positionen aus das herrschende Meinungskartell attackierten. Dabei bedienten sie sich einer Methodik, mittels derer auch Punk sich als soziales Zeichen von der Hippiekultur absetzte: der Scheinaffirmation. Für unsere Diskurstheoretiker diente als Angriffsziel: der Glaube an das Buch und die Lesekultur, die Humanwissenschaften und überhaupt die Herrschaft des Geistes – allem voran aber war das die Kritische Theorie und ihre politische Korrektheit.
Als Mittel diente Desillusionierung– nichts mehr ist etwas wert oder zumindest nicht das, was es scheint. Dahinter stand natürlich der Versuch, Deutungshoheit zu erlangen, also die Meinungsführerschaft über die Diskursstammtische der Geistesrepublik. Und das heißt nichts anderes als: Pfründe, Lehrstühle, Ruhm, Geld, die magische Verwandlung von symbolischem in ökonomisches Kapital.
Das ist weder illegitim noch unüblich: Es sind die sozialen Kämpfe, die von Generation zu Generation aufbranden und aufbranden müssen. Für die beständig waltende Dialektik der Geschichte ist der vorliegende Fall jedoch ein Musterbeispiel, an dem man neben den Dramaturgien der Aufmerksamkeitsökonomie auch die spezifischen Theoriedispositionen der 1980er- und 1990er-Jahre studieren kann. Wodurch man – und was will man mehr – wieder ein bisschen besser verstehen kann, wieso wir heute so denken, wie wir es tun.
Ein frühes Beispiel für den »Vatermord« dieser Vier bietet ein Sammelband, der sie alle zusammenführte: »Das schnelle Altern der neuesten Literatur« (1985), herausgegeben von Jochen Hörisch und Hubert Winkels. Der Titel basiert zwar auf einem Adorno- Wort, propagiert jedoch nichts weniger als den Tod der Kunstform Literatur als solcher. Das Individuum, die Geschichte und die Kunst, alle angestammten Motive der Literatur seien, so Hörisch im Vorwort, ausgelaugt und erledigt, mehr noch: »Wie das Lexikon der Themen und Motive, so sind Syntax und Semantik aller möglichen Stile und Schreibweisen virtuell erschöpft.« Und Winkels sekundiert: »Literatur als Sozialisationsagent der bürgerlichen Gesellschaft hat ausgedient.« Starke Worte. Bilder-, Zeichen- und Denkstrukturensturm. Was der Band letztlich enthält, ist aber weitgehend übliche Literaturwissenschaft, Bolz’ Auslassungen über den experimentellen Charakter von Hans Magnus Enzensbergers und Alexanders Kluges literarischem Wirken, Kittlers geradezu klassische Handke-Analyse sowie ein paar Essays von belletristischen Autoren wie Peter Glaser. Das Buch ist ein Buch ist ein Buch. Oder etwa nicht?
Nähern wir uns zunächst Norbert Bolz. Er arbeitete in seiner Dissertation über Adorno und war Assistent des Religionsphilosophen Jacob Taubes. Nach dessen Tod war BolzDozent an der Freien Universität Berlin, ab 1992 Professor für Kommunikationstheorie in Essen, seit 2002 wieder in Berlin. Wissenschaftlich wird Bolz von niemandem ernst genommen. Dafür bringt Bolz es mit seinen schlagkräftigen Thesen immer wieder ins Fernsehen. So war er etwa im »Philosophischen Quartett« zu bewundern – der Sendung, in der die beiden Hardcore-Asthmatiker Safranski und Sloterdijk regelmäßig ihre Gäste an die Wand schwafelten, manchmal auch umgekehrt (etwa wenn Maxim Biller zu Besuch war). Beim ehrwürdigen Volker Panzer war Bolz ebenso gern gesehener Gast wie bei Sandra Maischberger, der er einmal die korrekte Harke des Patriarchats zeigte. Wie wurde er zu einem so gefragten Interviewpartner?
Ganz einfach: Bolz ist der Mann fürs Grobe. Keine Halbheiten, immer klare Sätze. Über den engen wissenschaftlichen Kreis hinaus bekannt wurde er mit seinem Buch »Am Ende der Gutenberg-Galaxis« (1993). Darin geht es nicht nur um das Ende des Lesekosmos, nein, im Grunde geht es um das Ende der Welt, so wie wir sie kennen. In der Zukunft, wie Norbert Bolz sie imaginiert, existieren keine Schrift, keine Liebe, sondern nur mehr »Telerelationen«. Das menschliche Verhalten unterliegt In- und Outputvarianten, ist als »Reduktionsreihe« darstellbar: »Freiheit ist Wahlfreiheit, Wahlfreiheit zeigt sich als Steuerungsproblem, Steuerung ist Entscheidung, und Entscheidung läßt sich als Berechnung automatisieren.«
Bolz bezieht sich bei seinen Sozialidyllen auf Niklas Luhmann. Bei Bolz wie bei Luhmann gibt es keinen Zweifel im System – Aus-X-folgt-Y- (und nicht Z-) Sätze reihen sich aneinander: »Wahrnehmen ist eine Art Scanning, das nicht Weltdinge präsentiert, sondern Beziehungen prüft.« Die Techno-Apotheosen des Norbert Bolz mussten den armen Humanisten wirklich übel aufstoßen, das ist klar.
Da aber auch Jahre später noch nichts von dem, was er menetekelnd an die Wand geschrieben hatte, wahr wurde, musste Bolz sich was anderes überlegen: also wieder grobe Umkehr. Die 68er sagen: »Ware ist schlecht, Verkaufen das Allerletzte!«. Folglich preist Bolz die Warenwelt mit allem, was er hat. Aber den Konsumterror einfach nur abzufeiern, wäre zu wenig, es muss schon etwas Weltbewegendes sein, eine echte Zäsur, ein historischer Einschnitt, also erscheint »Das konsumistische Manifest« (2002). Bolz als Marx und Engels des Konsumismus.
Das Buch stammte zum größten Teil nicht von ihm. Wie schon in »Ende der Gutenberg-Galaxis« (das im »Manifest« in textidentischen Passagen immer mal wieder aufscheint) zeigt sich Bolz mehr als Theorie-DJ, der Zitate von Marx, Benjamin, Luhmann, Castells und vielen, vielen anderen mixt. Ihnen entlehnt er massenweise »Einwürfe « und »Wendungen«, »unüberbietbare« oder auch nur »schöne«, »berühmte« oder »richtige« »Sätze« und »Bonmots«, denn was unüberbietbar, schön, berühmt und richtig ist, weiß Bolz ganz genau.
Auch weiß er stets, was die erwähnten Geistesriesen genau »meinten«, denn er schreibt etwa: »das meinte Marx, als er sagte … «. Man ist geneigt, ein »eigentlich« hinzuzufügen: Was die Geistesgrößen »eigentlich« meinten, es erklärt uns Norbert Bolz. Dabei ist einigermaßen überraschend: Im Zuge seiner prinzipiellen Umwertung aller Werte, die Bolz durchzieht, weil er sie durchziehen muss, koste es, was es wolle, singt er dem Kapitalismus ein feins Liedchen. Der Kapitalismus wundert sich und reibt sich die Augen, denn Folgendes wusste er selbst noch nicht: Erst der Kapitalismus, so Bolz, schaffe eine zivilisierte Welt, er sei der einzige Grund, weswegen wir alle uns nicht an die Gurgel gingen. Ethische Begründungen für soziales Verhalten gebe es nicht mehr, sondern allein ökonomische – »es ist intelligent, nett zu sein.«
Wenn es schlecht läuft und niemand mehr zu einem nett ist, hat man halt Pech gehabt. Dann bleibt einem nur blanker Neid. Der Neid derer, die nichts haben, auf jene, die gesegnet sind mit all den Luxusgütern der modernen Welt. Wut, Hass, Attacke auf Symbole dieses sozialen Unterschieds werden nicht ausbleiben, denn: »Die wachsende Entbehrlichkeit vieler Menschen macht diesen Umschlag immer wahrscheinlicher; die Überflüssigen werden ausgeschlossen.« Norbert Bolz verrät uns nicht, wohin die Überflüssigen transportiert werden, was genau für sie vorgesehen ist. Widerstand jedenfalls ist zwecklos, das Allerschlimmste sind für Bolz die »Konformisten des Anderseins«, die es immer noch nicht begriffen haben: »Die hässlichen Zwerge verkleiden sich als Kapitalismuskritiker.«
Sie mögen das Geld nicht, das Bolz richtig prima findet, er hat es ja. Deshalb feiert er das Geld, bezeichnet es als den »kulturellen Wert«, behauptet sogar, Geld stifte Frieden. Und töte die bösen Leidenschaften ab. All jene, die kein Geld haben, es nie hatten und nie haben werden, wird diese Nachricht sicher freuen. Denn Hunger und Armut sind Leiden und entfachen tatsächlich Leidenschaften, auf die man gerne verzichtete. Bolz ist das egal, für ihn gehört der Mensch eher abgeschafft, Geld allein reicht! Der einzige Sinn des Menschen ist, dass er zahlt. Sonst bräuchten Bolz, Luhmann und die anderen Maschinen den Menschen gar nicht mehr …
Jochen Hörisch ist ein ganz anderer Fall. Der ist ein wirklicher Professor. Auch er beschäftigt sich mit Geld. Geld und Literatur, und das wird manchen Traditionsgermanisten provozieren: Das Sublime wird auf den schnöden Mammon gebracht. Doch wer kann etwas dagegen sagen: »Das Medium Sprache hat seine Vorherrschaft an das Medium Geld abgegeben.« Da braucht man sich ja nur umzuschauen: Geld fließt überall. Die Sprache ist erledigt. Dass Hörisch meint, die Welt sei ohne Geld überhaupt nicht mehr lesbar, ist natürlich ein starkes Stück. Schlimmer: Er betrachtet es als die vordringliche Aufgabe der Literatur, »mehr als nur einen Sinn im Geld zu entdecken.« Ja, darf man das denn? Ist die ganze, schöne Literatur nur dazu da, ein bisschen mehr Sinn ins Geldausgeben zu legen?
Da sind wir ja beinahe wieder bei Bolz. Diese Sicht liegt aber wohl darin begründet, dass Hörisch früher selbst mitgewirkt hat an jener Entmystifizierung des Literaturbegriffs. Die Literatur ist erschöpft, sie muss sich schlafen legen. Vielleicht fallen ihr dann wieder ein paar originelle Bilder ein. Die problem- und themengeschichtlichen Durchgänge Jochen Hörischs sind weniger problematisch, der Punk lugt eher in seinen Merkur-Artikeln hervor, in denen er dann ein bisschen mehr provoziert und etwa eine Apotheose des Fernsehens liefert, es sei »erzliberal« Nicht nur das, nicht Nietzsche, nicht Heidegger seien die Bezwinger und Überwinder der Metaphysik, das Fernsehen war’s!
Oder aber er überzieht die Politiker mit Anerkennung und Lob – die können ihr Glück gar nicht fassen. Sie begreifen dabei gar nicht, wie viel Spaß es macht, einfach nur das Gegenteil zu behaupten von dem, was alle anderen behaupten, ganz egal, ob das sinnvoll ist oder nicht. So lässt Hörisch sogar die Lyrik Albert Ostermaiers hochleben! Hörisch ist eben einfach immer für eine Überraschung gut: Da will die damalige Merkur-Redaktion, also Kurt Scheel und Karl-Heinz Bohrer, ein antikommunistisches, pro-kapitalistisches Sonderheftin den Meinungskrieg werfen, und was macht Hörisch? Er dringt ganz naiv und diktiert vom gesunden Menschenverstand in die heiligen Gefilde der Wirtschaftswissenschaftler ein und weist mit spitzem Finger auf die ein oder andere Aporie des angeblich so freien Marktes! Kapitalismuskritik im Merkur! Bohrer müssen sich die Fußnägel aufgerollt haben, doch einfach rausschmeißen kann er einen so wichtigen Beiträger wie Hörisch nicht. Ganz lustig. Ich sage doch: Pogo.
Der 2011 verstorbene Friedrich Kittler hatte seine Punkherkunft noch besser versteckt als Hörisch, das muss man sagen. Sein Klassiker »Aufschreibesysteme« (1985) hat Hand und Fuß, doch höre ich bisweilen Rock ’n’ Roll aus dem Text heraus. Allein schon, dass er seinen zwei Großkapiteln statt einer literarischen Widmung mathematische Formeln voranstellte. Wollte er seine Leser provozieren?
Kittler machte keinen Hehl daraus, dass er das gesamte Humansystem der Wissenschaft für eine ziemliche Laberbude hält – ausgehend vom »Faust« zeichnet er die europäische Denkgeschichte als unendliche Bibliothek, in der die Bücherwürmer nagen, Staub, Alter, Langeweile, das ganze Programm. Es passiert dabei wenig:´»Die Gelehrtenrepublik ist und bleibt endlose Zirkulation, ein Aufschreibesystem ohne Produzenten und Konsumenten, das Wörter einfach umwälzt.«
Es entspricht Hörischs Meinung, dass Literatur nicht wirklich viel Neues zu bieten hat. Nichtsdestotrotz widmet sich Kittler sehr genau der Ausdifferenzierung dieser jeweiligen »Aufschreibesysteme« – und das ist durchaus auch ein sehr medientheoretisches Verständnis von Literatur und literarischer Kommunikation. Das Aufschreibesystem von 1800 ist dadurch charakterisiert, dass in ihm Dichtung zugleich Mittel und Ziel des Verstehens ist. Das heißt, Dichtung ist Verstehen, versucht zu verstehen und erlaubt gleichzeitig qua Lektüre Verstehen. (…) Das Schreiben der Dichter im Aufschreibesystem von 1800 ist reine »Distribution von Diskursen«, die zu einem groß angelegten System miteinander verschaltet werden, also »eine Kultur, die Lesen und Schreiben automatisiert und koppelt.«
Dass Kittler seine Diskursmodelle mit quasi kybernetischen Beschreibungen versieht, ist kein Zufall, denn tatsächlich bringt er bewusst und erstmalig den Bereich der Technik in den kulturwissenschaftlichen Kontext ein. Da aber niemand der anderen Germanisten auch nur den Hauch einer Ahnung davon hat, können sie schwerlich etwas dagegen tun. So darf Kittler, nachdem er in »1900«, dem zweiten Kapitel seines Hauptwerks, gezeigt hat, wie die Literatur von technischen Medien und psychophysischen Sprachvivisektionen abgelöst wird und zergeht, ungestraft über den Einfluss von Turingmaschinen, Typewritern und Computern auf die heilige Dichtung räsonieren.
Verlassen wir das System Wissenschaft und kommen zu Hubert Winkels. Er hatte anfangs ebenfalls mit dem akademischen Bereich geliebäugelt, dann aber die Laufbahn des freien Autors beschritten.
Als solcher war er einer der Jungen Wilden der Literatur, jener Strömung, mit der Kiepenheuer & Witsch Mitte der 1980er-Jahre schon einmal versuchte hatte, eine »Popliteratur« zu implementieren. Leider fehlte zu dieser Zeit der griffige Schlüsselbegriff, oder sollte ich sagen: Schlüsselreiz?
Diese literarische Mode brach deshalb schnell in sich zusammen, und Winkels wechselte ins Kritikerfach, das heißt: Kritiker war er ohnehin schon, als Chefredakteur des Überblick, der Düsseldorfer Stadtzeitung, hatte er regelmäßig Kritiken geschrieben. Statt also selbst die neue Literatur zu entwickeln, stellte Winkels sich zunehmend in ihren Dienst: als Moderator der SWR-Bestenliste im Fernsehen, als Kritiker für die Zeit, als Redakteur des DLF-Büchermarkts und als essayistischer Buchautor. Er wurde so zu einem der aktuellen Großkritiker in der Marcel-Reich-Ranicki-Nachfolge – neben Denis Scheck, Iris Radisch, Uwe Wittstock oder Ijoma Mangold.
Zunächst allerdings gab er sich durchaus stürmend und drängend. Im erwähnten Vorwort zum Band »Das schnelle Altern der neuesten Literatur« heißt es etwa: »Das Buch hält den Sinn nicht mehr, und es entkommt ihm nicht. ›Das Buch‹ ist abgeschafft. Es wird nur noch Bücher geben – diese oder jene Texte zum schnellen Verzehr, schnelle Texte, kurzlebige. Die Literatur zerfällt in Literaturen. Eine Institution löst sich auf in Konsumgüter.«
Ich weiß nicht, ob er das heute auch noch so sehen würde. Vielleicht. Gerade als Kritiker erlebt man die Literatur als nimmer endende Abfolge von Veröffentlichungen. Doch in der Debatte um Volker Weidermanns Literaturgeschichte »Lichtjahre« (2006),die er vor einigen Jahren mit auslöste, argumentierte Winkels wieder für eine längere Haltwertzeit von Dichtung.
Schon in den Achtzigern verhinderte seine Zustandsanalyse nicht, dass er sich für einzelne dieser vielen Bücher einsetzte, speziell für eine Literatur, die sich gegen den hehren Kulturanspruch von einst wandte. An ihr demonstrierte er, wie das Erzählen mit veränderten Prämissen – aus seiner Sicht – eben doch noch funktionierte, etwa in Joachim Lottmanns »Mai, Juni, Juli« (1987), in dem ein ironisches Spiel mit der Autorenfunktion getrieben wird. Winkels schrieb dazu: Da es keine echten Begründungen für literarisches Erzählen mehr gäbe, blieben dem Schriftsteller »nichts als die nominellen Ruinen einer einst funktionell bestimmten Profession«.
An Lottmann, Goetz u. a. frönte Winkels aber auch erkennbar seiner Lust am sekundären Hippie-Bashing, indem er genüsslich die gezielt gesetzten Inkorrektheiten seiner literarischen Gewährsmänner herausstellte – sie gleichwohl auch kontextualisierte, also erklärte, wieso diese Autoren plötzlich das Wort »Neger« gebrauchten und Behindertenwitze rissen. Er stellte klar, dass es dabei nicht um neorechte Gesinnungen ginge, sondern um eine spitzfindige »Minimal Art der reaktionären Enttabuisierung.« Darin dokumentiere sich die allgefällige Verfügbarkeit jeder Position, der »beliebige Austausch alles Sagbaren [… ], Reaktion und Rassismus als Mode – nach ›Bolschewikenschick‹ und schwarzer-Stern-Romantik ein Angebot auf dem Markt der Meinungs- und Einstellungsmuster.« Winkels’ Text über Lottmann ist ein Musterbeispiel dafür, wie man die Literaturkritik dazu benutzen kann, eigene kulturelle Überzeugungen zu transportieren. Trotz seines grundlegenden Einverständnisses mit den semiotischen Spielen der Autoren Lottmann, Goetz und Meinecke scheint darin doch ein leiser Zweifel aufzuscheinen. Zu Recht.
Wenn diese Signifying-Prozeduren Ende der 1980er-Jahre vielleicht noch subversiv wirkten, muss man heute in diesem Punkt anderer Meinung sein. Das zeigt sich gerade ganz aktuell. Denn solche »dirty talks« stehen am Anfang einer heftigen Liebesaffäre mit rechten und pseudorechten Positionen, die inzwischen immer mehr hoffähig gemacht werden, und bei denen rechts und pseudorechts immer weniger unterscheidbar werden, ja zusammenfallen.
Nichts für ungut, Jochen Hörisch. Nichts für ungut, Friedrich Kittler. Erst recht nichts für ungut, Hubert Winkels, den ich kenne und schätze. Für seine Punkvergangenheit muss sich niemand schämen.
Auch weil hier – analog – das Churchill-Wort über die Sozialisten gilt.
Aber alles für ungut, Norbert Bolz. Wer Menschen nur noch als Zahl und Bezahlfunktionen betrachtet, wer die »Feminisierung der Öffentlichkeit« bejammert, aufgrund derer man keinen ordentlichen Krieg mehr führen könne, dazu noch auf das traditionelle Rollenbild pocht, den muss man bekämpfen. Das ist kein Punk, das war es nie.

Dieser Text ist dem Band „Diskurspogo – Über Literatur und Gesellschaft“ von Enno Stahl entnommen, dort finden sich auch alle notwendigen Fussnoten zu den Zitaten, der Text ist hier somit leicht gekürzt wiedergegeben.

Die Armen in der Senne

Von Georg Weerth

Von den Höhen des Teutoburger Waldes sieht man in eine weite Ebene, die Senne genannt, deren ödester Teil sich zwischen Paderborn, Bielefeld und dem Fürstentum Lippe hinzieht. Sie gewährt einen eigentümlichen Anblick, der sich wohl am besten mit der Aussicht vergleichen läßt, die man in der Abenddämmerung von einem höhern Punkte des Strandes auf die See hat. Die Täuschung wird noch größer, wenn in den Strahlen der untergehenden Sonne, oder im Mondlicht, die dunklen Wasserflächen einiger Teiche zu leuchten beginnen, die hin und wieder den Sand durchschneiden und gewöhnlich von kleinen Fichtengehölzen umgeben sind. In solchen Augenblicken gewinnt die Gegend keineswegs einen schönen, vielmehr einen höchst unheimlichen und wahrhaft geisterhaften Anstrich. – Die Umrisse einiger Meierhöfe und zerstreuter Baumgruppen verschwinden, und bald gewahrt das Auge nur noch den schwarzblauen Farbenton der Ebene, über welche die Nebel in weißen Wogen hereinbrechen.

Dem Beschauenden scheint dann der geheimnisvolle Geist jener Wüste vorüberzuschweben, jener Wüste, in welcher schon so vieles auf und nieder ging, in deren Sand die Waffen der Römer verrosteten, in der Franken und Sachsen im Kampf aneinanderrannten, in welcher der tollste Hexenspuk sein Wesen trieb – und die jetzt wohl die unglücklichsten Bewohner des einst so gewaltigen Westfalens bevölkern. Wir wollen von den Bergen hinuntersteigen und uns auf dem eigentlichen Terrain näher umsehen. – Eine Wüste nannten wir jenen Landstrich, und dennoch bevölkert! Leider ist dies nur zu wahr; denn auch hier, wo die Natur dem Menschen geradezu untersagt zu haben scheint, sich anzubauen, hat der Arme, dem kein besserer Boden zuteil wurde, sein Korn der Erde anvertraut. Hier und dort, wo der Sand fester und feuchter ist, sieht man Buchweizen und Hafer in dünnen Halmen aufschießen; gleich daneben, hinter einem Zaun aus Birken geflochten, weidet eine magere, buntgefleckte Kuh, wohl die einzige Trösterin des Bauers, der nicht weit davon aus Lehm und Baumzweigen seine niedrige Hütte aufgeschlagen hat. Treten wir an die Tür derselben, da schlägt uns ein dichter Rauch entgegen, denn für einen Schornstein hat man nicht gesorgt. Ist im Winter der Herd erloschen, da muß der in der Hütte zurückgebliebene Rauch und Dunst noch wärmen. Gehen wir vorüber, da laufen uns einige zerlumpte Kinder nach; sie halten die Hände gefalten und murmeln eine Sprache, welche niemand versteht. Aber in den kümmerlichen Blicken kann man lesen, was sie wollen, und gebt ihr einem kleinen Mädchen mit hellblonden Haaren eine Silbermünze, da ist es mehr, als sie je besaß, mehr, als sie in mehreren Wochen durch Flachsspinnen verdienen kann. – Es ist so rührend komisch, wenn man mit einem Bauer spricht, welcher eben aus Friesland zurückkommt, wo er einige Monate für Lohn arbeitete. Seine Augen blitzen vor Freude; er bringt Geld mit, Geld in dem kleinen ledernen Beutel; das kleine Feld ist unterdes leidlich gediehen; die Kuh ist noch am Leben; er dünkt sich reich und glücklich! Da sieht er plötzlich seine Kinder herbeilaufen, und er wird ernst und still; es fällt ihm ein, daß alles vielleicht nicht hinreicht, um die junge Brut durch den Winter zu bringen.

Aber beim Teufel, lieber Mann, weshalb hat er auch so viele Kinder!” – “Ja”, sagt der Bauer dann, “die Obrigkeit ist auch gar nicht damit zufrieden. Sehn Sie, wenn unsereins heiraten will, da muß er erst auf dem Amt 150 harte Taler vorzeigen können, und kann er dies nicht, da mag er gehn – er wird nicht kopuliert. Wenn ich nun unsers Nachbars junge Liese gern leiden mag und kein Geld habe, was tue ich dann? Entweder muß ich bei einem Paderborner Juden das Geld borgen und abscheuliche Prozente bezahlen, oder –”, und dann sieht mancher junge Bauer verschämt zur Erde.

Am schlimmsten sind die Leute daran, welche sich durch irgendeinen günstigen Ackerfleck verleiten ließen, mitten in die eigentliche Senne zu ziehen, denn dort sind sie, wenn im Winter die ohnehin ungangbaren Wege ganz verschneien, von aller Welt abgeschnitten. Der Vorrat von Kartoffeln geht bald zu Ende; durch die schlechte Witterung, welche die Lehmwände der Hütten naß und feucht macht, brechen Krankheiten ins Haus herein; – mehrere Glieder der Familie liegen schon, die Alten an der Gicht, die Jungen am Nervenfieber darnieder – da macht der Gesundeste sich auf und eilt zu dem Prediger des nächsten Dorfes. Der soll trösten, helfen, retten. Man sagt ihm, ein Sterbender wünsche die Sakramente. Er kommt an Ort und Stelle, sieht den Jammer und die Not, sieht aber auch ein, daß das Heiligtum hier weniger helfen kann als eine wollene Decke, als ein gutes Brot. Ist es in seiner Macht, so unterstützt er aus eignen Mitteln, bescheinigt aber gewiß den kläglichen Zustand jener Armen, damit sie aus der nächsten Ortschaft ihren Pfennig von der Behörde und die Hilfe eines Arztes bekommen.

Leider sind manchmal die Einkünfte einer Gemeinde aber nicht so groß, um jedem unglücklichen Einlieger helfen zu können, und, was noch schlimmer ist, oft findet sich auch, daß ein Bauer, nachdem er bei dem Gemeindevorstand um Unterstützung angehalten hat, gar nicht zu dieser gehört, also kein Recht darauf hat. Die Grenzen der Länder, in jener Ebene durch nichts Hervorstechendes markiert, waren ihm nicht bekannt; er weiß nicht, ob er ein Preuße, ein Lipper oder was sonst ist, und ehe er sich von der einen Behörde an die andere wenden konnte, ist der Tod in seine Hütte hereingebrochen und hat mit seinem kalten Kuß allem Leid ein Ende gemacht. Vor nicht gar langer Zeit fuhren wir von der lippeschen Grenze ins Preußische hinüber und wurden auf dieser Postwagenreise durch den Sand mehr hin und her geworfen als in dem lustigsten Sturm auf dem Kanal. Hinter uns lagen die altsassischen Wälder, in denen wir noch am Morgen einen der größten Hirsche ventre à terre vorüberrennen sahen – vor uns dehnte sich die Ebene mit ihrem rotblühenden Heidekraut, das immer höher aufwuchert, wo ein Teich den Boden feuchter macht. Einige Kiebitze, die schlanken Bewohner der Heiden, hüpften über das Moor und ergötzten uns durch ihr helles Geschrei, in das bisweilen ein alter Frosch mit verständiger ernster Stimme einfiel. Nebenbei lenkte ein alter Förster unsre Aufmerksamkeit auf einige Fichten, in deren Umzäunung wir die Trümmer einer Hütte bemerkten, die das Feuer jüngst zerstört zu haben schien. Die Geschichte, welche der alte Mann darauf erzählte, machte bald unsrer heitren Stimmung ein Ende:

“Im letzten Winter, als abwechselnd durch Schnee und Regen alle Wege durch die Senne ungangbar gemacht waren, hatte in jener Hütte, welche jetzt als Trümmer vor uns lag, die Not ihren Gipfel erreicht. – Ein junger Bauer verlor sein Weib, was ihm sechs kleine Kinder hinterließ. Sie zu ernähren, war das wenige Geld, was er aus Friesland mitbrachte, bald draufgegangen, und eine gänzliche Mißernte machte, daß seine Scheune diesen Winter ohne den gehörigen Vorrat von Früchten blieb. Dazu kam noch das lange Darniederliegen des Leinenhandels, der von England aus mit so großem Erfolg betrieben wird und der den Bauern jener Gegend, welche früher das Garn mit Nutzen zu Markte trugen, jetzt jede Möglichkeit nimmt, ihr Leben dadurch zu fristen. Alles hätte den jungen Bauer indes noch nicht niederbeugen können, denn noch blieben ihm ja zwei tüchtige Fäuste, die zu jeder Arbeit bereit waren und bei dem Bau des Armindenkmals in jener Zeit gerade die beste Gelegenheit dazu fanden. Aber, wie durfte er sich tagelang von seiner Hütte entfernen sechs Kinder kauerten halb nackt am Feuer, und im Winkel der Stube lag auf hartem Strohlager der alte Vater, krummgezogen von der Gicht, von den fürchterlichsten Schmerzen geplagt, der weinend seine Knie umfaßte und ihn bat, nicht davonzugehen. Mehrere Male war schon das größste der Kinder in das nächste Dorf geschickt zu dem Prediger. Der Vater sei so krank, ließ man ihm sagen, er möge doch mit den Sterbesakramenten kommen.

Der Pastor war jedesmal erschienen – aber wozu der Trost schöner Worte? – Man ließ ihn rufen, weniger der Gottseligkeit wegen, als daß er noch einmal die Not sähe, noch einmal eine Unterstützung auswirkte oder vielleicht noch einmal in die eigene Tasche griffe; denn der kranke Vater machte noch keine Sterbemiene; sechzehn Wochen lag er schon am Boden, er war an Schmerzen gewöhnt, er wollte leider noch nicht sterben. – So ging der halbe Winter vorüber, die Gegend war von dichtem Nebel umhüllt; bald konnte man kein Kind mehr hinausschicken – es wäre in den sumpfigen Wegen, im Schnee, auf den unsichern Sandschichten unrettbar verloren gewesen; die Hilfe der Nachbarn wurde durch die vielen Armen immer kleiner, manchmal blieb sie ganz aus, und vom Hunger gestachelt, jammerten dann die Kinder in der Hütte umher.

Als die Sonne wieder einmal rot hinter den fernen Bergen hinabgesunken war und in der und um die Hütte das tiefste Dunkel lag, schleicht der junge Bauer aus der Tür, geht an die Wand, hinter welcher der kranke Vater lag, er schauert zusammen, zerdrückt noch eine Träne im Auge – und mit kräftigem Stoß reißt er die morsche Lehmwand auseinander. – Der Kranke, gänzlich erschöpft, ist gerade in festen Schlaf versunken, er merkt nicht, daß ihm der kalte Nachtwind über das Gesicht streicht, und als er endlich wach wird, sich nicht von der Stelle bewegen kann und um Hilfe wimmert – da hört ihn niemand – man ist an das Jammern gewöhnt; der Sohn verbirgt sein Gesicht im Stroh, die Kinder schlafen. – Der Nebel ist indes verschwunden, in der Nacht wird es sternhell, es wird bitterkalt. – Um Mitternacht ist der Alte schon besinnungslos, als der Morgen kommt, ist er tot.
Jetzt hat der junge Bauer nur noch für die Kinder zu sorgen. Nach einigen Tagen sieht man die Hütte in Flammen aufgehn. – Der Eigentümer steckte sie selbst in Brand und zieht mit den Kindern auf die nächsten Dörfer, um zu betteln.”

Wir schreiben dies in einer Fabrikstadt Englands, in einem echt chartistischen Loch, in dem Armut und Unheil zu Hause ist; man hat uns manche Sachen erzählt, die das Herz beben machen können, aber Geschichten, wie die erzählte aus der lieben Heimat, sind doch auch des Schauderns wert.