Für meine Mutter

Von Charlotte Grasnick

Das Gedicht ist der Apfel,
den ich ihr schäle,
ist der Spaziergang,
auf dem ich sie führe,
ist der Brief,
in dem ich ihr
von den Enkeln schreibe
und dem Wachsen der Weide,
die sie pflanzte.

Das Gedicht ist die Zeit
unserer mühsamen Wege.

Aus dem Band „So nackt an dich gewendet. Gesammelte Gedichte“ von Charlotte Grasnick.

Keine neuen Helden

Von Philip Meinhold

 
Die Reste der Trümmertruppe „Bärgida“ ziehen allmontaglich durch die Hauptstadt. Ein Bericht aus dem Berliner Bodensatz.

Von der breiten Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, finden auch in Berlin nach wie vor wöchentliche Demonstrationen des lokalen Pegida-Ablegers mit dem sinnfreien Akronym „Bärgida“ statt – wobei die fehlende öffentliche Wahrnehmung den Teilnehmerinnen und Teilnehmern nicht unbedingt zum Schaden gereichen dürfte.
Denn was sich dort allmontäglich auf dem Moabiter Vorplatz des Berliner Hauptbahnhofs versammelt, ist eine Trümmertruppe sondergleichen: eine handvoll alkoholgeschädigter Hooligans, ein paar ihrer Schrankwandwelt entkommene biedere alte Paare, dazu die übliche Melange aus Reichsbürgern, Verschwörungsgläubigen und sonstigen Irren, wie man sie auch auf den friedensbewegten Montagsmahnwachen findet. Kurz: Es ist das letzte Aufgebot des Patriotismus, das sich hier Montag für Montag ein Stelldichein gibt.
Besonders eindrucksvoll war dies zu erleben, als man kürzlich beschloss, anstelle einer Demonstration eine Kundgebung mit offenem Mikrofon abzuhalten, sodass all der Irrsinn, der sich sonst heimlich, still und leise im Hohlraum zwischen den Ohren bewegt, von den Teilnehmern öffentlich kundgetan werden durfte.
Zunächst eröffnete Organisator Karl Schmitt die Veranstaltung mit dem längst bekannten Hinweis, dass die antifaschistischen Gegendemonstranten hinter den polizeilichen Absperrgittern mit 25 Euro pro Stunde vom deutschen Staat entlohnt würden; dies habe ihm eine Bekannte bestätigt, die jemanden in der autonomen Szene kenne (womöglich war es aber auch nur die Bekannte einer Bekannten, die jemanden kannte, der wiederum jemanden kennt, in jedem Fall schien die Aussage so gut wie verifiziert) – um direkt danach die eigenen Teilnehmer zu Freibier einzuladen, das man von Spendengeldern gekauft habe. Natürlich nicht, um sich zu besaufen, wie der Redner erklärte, denn dies sei schließlich – Zitat: „nicht der Hauptgrund unseres Zusammentreffens“.
Es folgte die Spontan-Ansprache einer Christin, die ihre Rede mit den Worten „Lasst uns beten“ begann, sowie die leicht ins Hysterische kippende und mit „Mohammed muss weg!“-Sprechchören bejubelte Koran-Exegese eines Hobby-Theologen, bevor sich ein Vertreter des – tatsächlich – „Bündnis deutscher Hooligans“ an alle „Patrioten, Hooligans, Rocker oder Normalbürger“ richtete: „Es ist egal, ob du Deutscher, ob du dick oder dünn, ob du alt, behindert oder sonst was bist: Komm mit uns zusammen auf die Straße, wenn du Deutschland liebst und etwas veränderst möchtest.“ Womit er die Bärgida-Zielgruppe ziemlich akkurat umrissen hatte – nur muslimisch, empathisch oder allzu intelligent sollte man eben nicht sein.
Auf dem Podium neben dem Sportsfreund versammelte sich ein Dutzend seiner angetrunkenen Kameraden als Chor, die die Rede immer wieder mit rhythmischen „Ahu!“-Rufen unterbrachen – dem affenartigen Schlachtruf der Hooligans aus dem Sandalenschinken „300“.
Last but not least erklomm schließlich Heribert Eisenhardt, Vorstandsmitglied der Lichtenberger AfD, die Bühne, der statt einer Rede seine Gitarre mitgebracht hatte, um dem geistig entrückten Publikum eine deutsche Interpretation von Tina Turners Klassiker „We don’ t need another hero“ darzubringen. Leider konnte er weder Gitarre spielen noch singen, sodass die abschließend gemeinschaftlich intonierten drei Strophen des Deutschlandlieds geradezu erholsam wirkten.
Und so geht von den wöchentlichen Berliner Bärgida-Kundgebungen vor allem eine entscheidende Botschaft aus: Wenn dies die Rettung des Abendlandes sein soll, dann brauchen wir uns um den Untergang Deutschlands keine Sorgen zu machen. Darauf ein Freibier, bitte!

Erstveröffentlicht in der taz vom 21.07.2015

Nacht im Stadtpark

Von Max Herrmann-Neiße

Ein schmales Mädchen ist sehr liebevoll
zu einem Leutnant, der verloren stöhnt.
Ein Korpsstudent mokiert sich, frech, verwöhnt,
und eine schiefe Schnepfe kreischt wie toll.

Ein Refrendar bemüht sich ohne Glück
um eine Kellnerin, die Geld begehrt.
Ein Abgeblitzter macht im Dunkel kehrt,
und eine Nutte schwebt zerzaust zurück.

Zwei Unbestimmte prügeln einen Herrn.
Mit Uniformen zankt ein Zivilist.
Ein Jüngling merkt, dass er betrogen ist
und zwei Verschmolzne haben schnell sich gern.

Ein starker Bolzen und ein Musketier
sind ganz in eine graue Bank verwebt.
Ein Gent an einem Ladenfräulein klebt,
ein greiser Onkel schnuppert geil und stier.

Ein Weib mit bloßem Kopf wird sehr gemein,
ein Louis lauert steif und rührt sich nicht.
Ein Frechdachs leuchtet jeder ins Gesicht,
und ein Kommis umfasst ein weiches Bein.

Es raschelt in den Sträuchern ungewiss
und etwas tappt auf einen steifen Hut.
Die Bäche liegen still wie schwarzes Blut,
und Bäume fallen aus der Finsternis.

Ein Johlen rollt die Straße hin und stirbt,
ein Wurf ins Wasser, irgendwo, ganz dumpf,
ein Mauerwerk wächst wie ein Riesenrumpf,
ein unbekanntes Tier erwacht und zirpt.

Zwei Männer flüstern einen finstern Plan,
ein welkes Wesen wehrt sich hoffnungslos,
ein Schüler hat ein Bahnerweib im Schoß,
im Teich zieht schwer ein ruheloser Schwan.

Und Sterne stolpern in die tiefe Nacht,
und Obdachlose liegen wie erstarrt,
und bleiern hängt der Mond, und hohl und hart
glotzt breit ein Turm, verstockt und ungeschlacht.

Über das Warten auf einen thematischen Kurswechsel

Von Giwi Margwelschwili

Wir sitzen im Bordell der argentinischen Buchweltbezirksstadt Morón. Pistolen knallen und Kugeln zwitschern von draußen durch unser kleines Zimmer.
„Keine Angst!“ sage ich zu André, der käseweiß dasitzt. „Das sind Buchweltkugeln, und die tun uns Realpersonen ja nichts. Prost!“
Er nickt. Wir nehmen einen kräftigen Schluck Mate. Vor dem schmalen Fenster sind bald Christian, bald Eduardo zu sehen. Beide reiten Sturm auf das Bordell. Dabei feuern sie wie wild. Manchmal kommen ihre wutverzerrten Fratzen beängstigend nah vor das Fenster.
Ein Glück, dass die Brüder nur Buchpersonen sind, denke ich, und Morón nichts anderes als eine Buchweltbezirksstadt.„Keine Angst!“ wiederhole ich. „Die können diesen Puff nicht stürmen. Unten hängt ein reales Schloss vor der Tür, und auf dem Dach weht die Fahne der Buchweltverwaltung.“
Wir nehmen noch ein Schluck Mate. Dann öffnet sich die Tür und Juliana Burgos kommt herein. Sie lächelt und bringt neues Wasser.
„Ein nettes Buchpersönchen, was?“ sage ich, als sie wieder gegangen ist. „Man kann verstehen, dass die Brüder so wild nach ihr sind.“
„Warum brachten sie sie hierher?“ wundert sich André. „Das ist doch ein Freudenhaus für die Buchpersonen des Ortes und…“
„Um sie loszuwerden.“ erkläre ich ihm. „Juliana Burgos ist die große Liebe beider Brüder. Eigentlich ist sie die Frau von Christian, dem älteren. Aber Eduardo verliebte sich auch in sie, und dann teilten sie sich die Dame. So ging es eine Weile. Doch dann prügelten sich die Brüder wegen ihr. Und um noch größeren Ärger zu vermeiden, verkauften sie Juliana an diesen Puff.“
„Das ist ja entsetzlich!“ ruft André aus.
„Diese Geschichte geht noch weiter. Nach einer kurzen Buchweltzeit holen die Brüder Juliana hier heraus, und die fatale ménage à trois beginnt von neuem. Es spitzt sich zu – und die Brüder beseitigen den Grund ihres Zwistes mit dem Messer, und verscharren die Burgos am Rand ihrer Buchbezirksgeschichte. Dies schlimme Schicksal hat die Arme unausgesetzt zu erleiden, denn Buchweltbezirksgeschichten drehen sich im Kreis, sie werden von ihren Lesern immer wieder neu entfacht.“
„Ach so!“ murmelt André betroffen.
„Jetzt verstehst du, warum wir hier sitzen.“ fahre ich fort. „Wir sind hier, damit das Buchweltmädchen Juliana überlebt. Dafür war es nötig, dass wir das Bordell dicht machten, als die Brüder sie abgegeben hatten.“
André nickt. Die Kugeln zwitschern noch immer durch den Raum.
„Die wollen Juliana zurück“, brumme ich, „aber das erlauben wir nicht mehr. Dieser Puff bleibt zu.“
„Schön!“ sagt André. „So retten wir sie. Und die Brüder? Werden die uns etwa ewig belagern?“
„Nee!“ Ich grinse. „Dies ist eine Buchweltbezirksgeschichte von Dieben. Da hapert’s nicht an saftigen Themen. Die Brüder werden sehr bald ein neues Buchweltmenschenschicksal für sich finden. Bis dahin hältst du hier Wache. Zu tun gibt s nicht viel. Du gibst acht, dass Juliana sich nicht am Fenster zeigt. Jemand von der Buchweltverwaltung muss hier sein, bis die Brüder sich beruhigen und ihre Geschichte einen anderen thematischen Kurs einschlägt.“
„Und was wird aus ihr?“
„Die Buchweltverwaltung steckt sie in eine friedlichere Geschichte“, sage ich. „Das ist jedoch nur möglich, wenn diese hier thematisch auseinander bricht, wenn also die beiden Brüder ein neues thematisches Leben anfangen.“
„Schade für die Brüder“, murmelt André. „Sie lieben sie doch immerhin.“
„Nein!“ sage ich. „ Jetzt erst beginnt ihre Liebe zu Juliana.“
„Wie meinst du das?“ André ist überrascht.
„Die Liebe zu Juliana ist in diesen Buchpersonen thematisch eingezeichnet“, erkläre ich. „Die werden sie nicht los. Doch ohne Juliana wird sie sich mit den Jahren bestimmt ein wenig veredeln. Sie wird sich in eine ideale Erinnerung verwandeln, mit der sie leben werden und die vielleicht ihre Rohheit etwas glättet.“
Ich sehe auf die Uhr. Es wird Zeit, dass ich gehe.
„Wie kommst du hier raus?“ fragt André. „Die schießen doch immer noch.“
„Wie gesagt, als Realpersonen sind wir stich-, hieb- und kugelfest“, sage ich. „Aber hier! Nimm noch das!“
„Ein Buch?“
„Es sind Erzählungen des Jorge Louis Borges“, erkläre ich. „Die Geschichte von der armen Juliana findest du hier auch.“
„Na denn“, ruft André und erhebt seine Teetasse. „Ein Vivat auf die Buchweltverwaltung!“
Wir trinken, und die Salven der zwei Buchweltpersonen zerbersten wie Ehrensalven im Bordellzimmer.